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Russland für die Westentasche

Russland = Moskau = Kreml = Putin? Hier entwickle ich ein einfaches Modell aus den Komponenten Macht, Volk und Intelligenzija — um Russland besser zu verstehen.

Die Solotoi-Brücke in Wladiwostok, Russlands wichtigster Hafenstadt am Pazifik. Foto © David Ehl

Dieser Artikel verlinkt ausgiebig auf die Sach- und Hintergrundtexte unseres Russland-Portals dekoder.org – Russland entschlüsseln. Er bietet einen facettenreichen Einblick in die russischen Realitäten, verschafft eine Grundlage für ein genaueres Verständnis der derzeitigen Russland-Diskussion und ermöglicht so einen Einstieg ins Russland-Thema. Zuerst erschienen im September 2016 bei Perspective Daily.


»Ukraine-Krise«, »NATO-Stationierungen«, »Propaganda«, »Putin-Trump-Connection« — in den Medien schwirrt es derzeit nur so von Schlagwörtern zum Thema Russland. Lange verdrängt von Finanzkrise und Arabischem Frühling, ist Russland wieder aufgetaucht auf dem Radar Europas und damit auch die Frage: Wie umgehen mit dem Land? Wie sich positionieren, welche Nähe, welche Distanz zu Russland suchen? Die Meinungen dazu gehen weit auseinander. Und das ist kein Wunder, denn Russland ist noch immer ein weißer Fleck im (west-)europäischen Bewusstsein.

Oft mangelt es selbst an den einfachsten Anhaltspunkten, wie sie in Bezug auf andere Länder selbstverständlich sind

Oft mangelt es selbst an den einfachsten Anhaltspunkten, wie sie in Bezug auf andere Länder selbstverständlich sind: Nie würde man über Indien debattieren, ohne Multiethnizität und Kastensystem in Anschlag zu bringen oder über Südafrika, ohne das Verhältnis zwischen Weiß und Schwarz und die Geschichte der Apartheid. Doch wenn es um den großen Nachbarn im Osten geht, dann begnügen sich viele pauschal mit: »Russland«. Oder gleich überhaupt mit: »Putin«.

Was zu Russland fehlt, ist ein vielleicht primitives, aber dennoch aussagekräftiges Minimalmodell des Landes. Keine Schneekugel vom Souvenirstand mit Matrjoschaks und Zwiebeltürmen, sondern ein handlicher, sorgfältig zusammengefügter Mechanismus, der zeigt, wie das Land tickt — ein Russland für die Westentasche. In diesem Text wird ein solches Modell vorgestellt. Dieses vereinfachte Modell beschränkt sich auf drei zentrale Komponenten: Macht, Volk und Intelligenzija. Die wichtigste Komponente dieses Modells ist die Macht, die die anderen beiden Komponenten maßgeblich beeinflusst.

Eigentlich ist »Kreml« nichts weiter als eine Festungsanlage innerhalb einer russischen Stadt, aber der Moskauer Kreml dient oft als Synonym für die russische Macht. — Quelle: Alexandergusev CC BY-SA

1. Macht — власть
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Die Macht umfasst wesentlich mehr als nur das, was wir die Regierung nennen würden. Der Begriff Macht — auf Russisch Wlast — steht für ein Netzwerk der Bestimmungshoheiten, der Einflussnahmen, ja oft genug auch der Gewalt, das sich durch die Institutionen und durch die Gesellschaft hindurchzieht und dessen Grenzen kaum genau zu bestimmen sind.

Der Begriff »Wlast« steht für ein Netzwerk der Bestimmungshoheiten und oft genug der Gewalt, das sich durch die ganze Gesellschaft hindurchzieht

Natürlich spielen staatliche Organe für die Macht eine große Rolle: die überaus mächtige Präsidialadministration, das FBI-ähnliche Ermittlungskomitee, in gewissem — für uns westliche Beobachter erstaunlich geringem — Maße das Parlament (die Duma), in besonderem Maße die Geheimdienste, die schon personell eng mit dem Staatsapparat verflochten sind. Zur Macht gehören außerdem die »Machtpartei« Einiges Russland, der Präsident selbst, die sogenannten Silowiki (die Machtminister für Inneres und Verteidigung sowie Beamte der Sicherheitsorgane), die Leiter regionaler Verwaltungen sowie Führungspersonen der großen staatsnahen Unternehmen. Auch die superreichen Oligarchen aus der Privatwirtschaft haben ihren Platz im Gefüge der Macht, zunehmend auch die russisch-orthodoxe Kirche, und nicht zuletzt sind auch Teile des organisierten Verbrechens der Macht nah.

Nikolaus II. war der letzte russische Zar. –CC0

Die allgegenwärtige russische Macht hat ihre Vorläufer in der absoluten Macht des Zaren, später in der totalen Macht der kommunistischen Partei und von beiden hat sie eine ihrer bezeichnendsten Eigenschaften geerbt: ihre Alternativlosigkeit. Es gibt keine Gegenmacht, die sie ablösen könnte. Das einzige, was der Macht droht, ist ihre Zersplitterung: so geschehen in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion. Doch spätestens mit dem Aufstieg Putins hat sich die Macht wieder konsolidiert.

Auch sprachlich gesehen hat Wlast einen ganz anderen Rang als das deutsche Macht. In Russland taucht das Wort auch im Alltag häufig auf, man sagt etwa: »Im Inneren der Macht geht etwas vor, die Macht tut etwas, verhindert etwas, über die Ziele der Macht kann man nur mutmaßen.« Oft klingen diese Redewendungen wie Beschwörungen einer spukhaften Instanz aus den Romanen von Orwell oder Kafka — Autoren, mit deren Welten die gegenwärtige russische Wirklichkeit von kritischen Intellektuellen immer wieder verglichen wird.

Ein Beispiel: Der Film »Leviathan«
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Das Drama eines Menschen, der gegen die Macht kämpft, zeigt der Oscar-nominierte Film Leviathan von Andrei Swjaginzew (2014).

Trailer zum Film »Leviathan« (OmU). Der Titel greift den Namen eines biblisch-mythischen Seeungeheuers auf.

Nikolais vom Vater geerbtes Haus steht in einer trostlosen nordrussischen Provinzstadt an einer der wenigen landschaftlich reizvollen Stellen oberhalb der Meeresbucht. Der Bürgermeister presst Nikolai mit Rückendeckung von Gericht und Kirche das Grundstück ab. »Du hast nie irgendwelche Rechte gehabt«, bekommt Nikolai von seinem Widersacher während eines vor Alkohol und Brutalität triefenden Show-Downs ins Gesicht geschrien, »und wirst nie welche haben!« Nikolai erliegt dem Druck, sein Haus wird abgerissen und an dessen Stelle eine Kirche erbaut, die der örtliche Geistliche mit einer patriotisch-moralisierenden Predigt weiht. Nikolai wird ins Straflager geschickt für einen Mord, den es nicht gegeben hat — die Macht hat ihn beiseite gewischt

»Du hast nie irgendwelche Rechte gehabt«, bekommt Nikolai ins Gesicht geschrien, »und wirst nie welche haben!«

Der Film hat in Russland stark polarisiert. Aussagen von Kinobesuchern wie »Der Film zeigt kein schönes Russland, aber er zeigt die Fakten« wurden immer wieder in den Medien zitiert. Das russische Kulturministerium hingegen, das die Produktion des Films zunächst selbst über ein Förderprogramm unterstützt hatte, tat alles dafür, das Werk bei seinem Erscheinen in Misskredit zu bringen. Kulturminister Medinski stellte in Aussicht, dass Filme, die »die bestehende Staatsmacht offen bespucken«, nicht mehr gefördert werden.



2. Volk — народ
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In einer Nebenszene repariert Nikolai — von Beruf Automechaniker — den Einsatzwagen des Kommandanten der örtlichen Verkehrspolizei, ohne dafür eine Bezahlung erwarten zu können. Er arrangiert sich mit der Macht, dort, wo er ihr nicht aus dem Weg gehen kann. Solange nicht die Existenz bedroht ist, ist das die Devise für jeden, der sich nicht zum Helden berufen sieht, für den »einfachen Menschen aus dem Volk« — wobei der Begriff »Volk« für russische Ohren weit weniger veraltet klingt als für westliche.

Eine Zivil- oder Bürgergesellschaft entsteht erst sehr zögerlich seit dem Ende der UdSSR

In Russlands Feudalgesellschaft war das Volk — Narod — von der herrschenden Klasse durch unüberbrückbare Standesunterschiede getrennt. Der Besitz von Menschen — meist Bauern, aber auch Dienstpersonal — wurde erst 1861 abgeschafft, die rechtlichen und wirtschaftlichen Grundlagen für eine wirkliche Emanzipation wurden jedoch nicht gelegt. Mit der Oktoberrevolution 1917 folgte auf die Feudalgesellschaft fast übergangslos der Sozialismus. Die sowjetische Gesellschaft war zwar formal auf Gleichheit aufgebaut, es entstanden aber schnell neue Klüfte zwischen den Privilegierten und den anderen Bevölkerungsgruppen. Das Individuelle war verpönt, das Bürgerliche galt als das Feindliche, Fremde.

Eine Zivil- oder Bürgergesellschaft wie im Westen hat sich in Russland im 20. Jahrhundert nie entwickeln können. Diese entsteht erst — sehr zögerlich — seit dem Ende der UdSSR, mit dem Aufkommen einer neuen Mittelschicht in den großen Städten. Das Volk als die Gruppe derer, die ihre Rechte nur bedingt ausüben können und die politische Fragen wie selbstverständlich der herrschenden Macht überlassen, ist in Russland weiterhin ganz und gar präsent.

Der ungeschriebene Vertrag zwischen Macht und Volk
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Umfragen besagen, dass 86% der russischen Bevölkerung den Kurs des Kremls unterstützen. Auch wenn die Zahl selbst mit Skepsis zu genießen ist — woher stammt diese zweifellos existierende, große Zustimmung zu Putin? Bringt sie ein politisches Urteil der Bürger zum Ausdruck? Nur bedingt. Die Zahl ist vor allem ein Ausdruck der Loyalität mit der Macht, die lange Zeit in erster Linie wirtschaftlich begründet war.

Boris Jelzin war der erste Präsident Russlands in seiner heutigen Form. — Quelle: Kremlin.ru CC BY-SA

Der ungeschriebene »Gesellschaftsvertrag« zwischen der Macht und dem Volk folgte bis vor einigen Jahren einer Formel, die aus der Sicht der Macht ungefähr folgendermaßen klingt: »Ihr mischt euch nicht ein in unsere politischen Angelegenheiten. Ihr verzichtet auf unabhängige Medien und stellt uns auch keine Fragen, was unsere eigenen Geschäfte oder unseren Reichtum angeht. Dafür verschaffen wir euch, was euch in den Zeiten der Sowjetunion und der Boris-Jelzin-Zeit gefehlt hat: einen bescheidenen Wohlstand, volle Regale in den Geschäften, Reisefreiheit einschließlich Sommerurlauben in der Türkei und eine relative Stabilität im Land.«

»Ihr mischt euch nicht ein, dafür verschaffen wir euch bescheidenen Wohlstand, volle Regale und Sommerurlaube in der Türkei.«

Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise in den Jahren 2009/2010 geriet dieses »Abkommen«, dessen Grundlagen Einnahmen aus dem Rohstoff-Export waren, ins Wanken. Die Loyalität zwischen Volk und Macht brauchte eine neue Basis. Im September 2012 erklärte Putin: »Wir müssen unsere Zukunft auf ein stabiles Fundament stellen. Ein solches Fundament ist der Patriotismus«. Das Volk war für diese Botschaft empfänglich: Der Schmerz über den Verlust des UdSSR-Großmachtstatus’, allgemein präsent im kollektiven Bewusstsein, verlangte nach Kompensation.

Patriotismus und Außenpolitik
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Seitdem wird der Patriotismus systematisch weiter genährt. Die staatlich kontrollierten Medien, allen voran das Staatsfernsehenbauen den Westen von Neuem als Feind auf, verbreiten das Bild von Russland als einer von allen Seiten belagerten Festung und mobilisieren so das Volk, auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten fest an der Seite der Macht zu stehen.

»Wir müssen unsere Zukunft auf ein stabiles Fundament stellen. Ein solches Fundament ist der Patriotismus.«

Auch in der Außenpolitik hat die Macht die Weichen neu gestellt. Patriotismus im Inneren kann nur gedeihen vor dem Hintergrund äußerer Konflikte, die daher entweder provoziert oder, wenn sie aus anderem Grunde entstanden sind, doch zumindest gezielt am Köcheln gehalten werden. Das jüngste und dramatischste Beispiel ist der Ukraine-Konflikt. Es zeigt sich: Das Außenpolitische in Russland ist gerade in den letzten Jahren immer auch innenpolitisch motiviert, aus dem spezifischen Verhältnis zwischen Macht und Volk heraus, das je nach Situation in immer neue Formen gegossen werden muss.

3. Intelligenzija — интеллигенция
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Macht und Volk — dies sind die beiden großen Komponenten des simplen Russland-Mechanismus. Es fehlt aber ein drittes Element, damit das Modell beginnt, lebensecht zu ticken — oder doch zumindest so lebensecht, wie man es von einer derart vereinfachten Apparatur erwarten kann: die russische Intelligenzija.

Im Sommer und Herbst 1922 legten mehrere Schiffe von Sankt Petersburg (damals Petrograd) ab. Ihr Ziel: Deutschland. An Bord waren rund 200 Schriftsteller, Ärzte und Wissenschaftler, die aus der Sowjetunion zwangsausgewiesen wurden. Die bolschewistische Führung nannte die Ausschaffung einen Akt »vorausschauender Humanität«: Man sei sonst später womöglich gezwungen, diese Mitglieder der »aktiven antisowjetischen Intelligenz«, wie sie offiziell bezeichnet wurden, »nach dem Kriegsrecht zu erschießen.«

1922 wurden 200 Mitglieder der Intelligenzija außer Landes verschifft — aus einem Akt »vorausschauender Humanität«.

Die Verfolgung der Intelligenzija hat in Russland Tradition. Im Zarenreich erwartete ihre Vertreter oft die Todesstrafe — viele »Intelligenzler« vertraten sozialistische Ideen und waren revolutionär gesinnt. Doch auch in der Sowjetunion ließ der Druck auf die Intelligenzija nicht nach. Unter Stalin wurden missliebige Schriftsteller oft beim geringsten Anlass (eine unbedachte kritische Bemerkung im privaten Kreis konnte genügen) in Straf- und Arbeitslager geschickt — ein Schicksal, das unter anderem Alexander Solschenizyn, Warlam Schalamow und den später vor allem in Deutschland berühmt gewordenen Lew Kopelew ereilte. Noch 1980 wurde der Physiker Andrei Sacharow, der an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe mitgewirkt hatte und dann mehr und mehr zum Kriegsgegner und Menschenrechtsaktivisten wurde, innerhalb Russlands in die Verbannung geschickt. Andere Wissenschaftler und Künstler emigrierten oder wurden gegen ihren Willen ausgebürgert. Sie hatten großen Anteil daran, die russische Kultur bei uns im Westen bekannt zu machen.

Im Zarenreich erwartete die Vertreter der Intelligenzija oft die Todesstrafe, auch in der Sowjetunion ließ der Druck auf die Intelligenzija kaum nach

Die russische Intelligenzija fällt nicht zusammen mit dem, was wir im westlichen Sinne »die Intellektuellen« nennen würden. Unter unseren Intellektuellen — also Wissenschaftler, Künstler und Journalisten, die am öffentlichen kulturellen und politischen Diskurs teilnehmen — lassen sich vermutlich so viele persönliche geistige Projekte finden, wie es Intellektuelle gibt. Die Vertreter der russischen Intelligenzija hingegen eint — bei aller Vielfalt innerhalb des Milieus, allen Unterschieden voneinander, allen Streitereien untereinander — ein gemeinsames Programm: Sie sind gegen die Macht.

Die Geschichte dieses intellektuellen Widerstands ist lang und verworren. Doch es gibt Motive, die in ihr immer wiederkehren: die Ideale der Freiheit und der Gerechtigkeit, eine säkulare Grundeinstellung oder wenigstens doch eine, die das Religiöse als eine individuelle Angelegenheit betrachtet, und ein Drängen auf Fortschritt, um die empfundene Rückständigkeit Russlands endlich zu überwinden. Die Herkunft dieser Ideen aus der europäischen Aufklärung liegt auf der Hand, und in der Tat wurde der Intelligenzija ihre »Verwestlichung« von Seiten der Macht und auch des Volks immer wieder vorgeworfen — und wird es heute wieder. In den vergangenen 10 Jahren haben erneut zahlreiche russische Intellektuelle das Land verlassen, aus freien Stücken, vor allem nach Israel oder nach Deutschland.

Kann die Intelligenzija etwas bewirken?
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Immer wieder ist den Bemühungen der russischen Intelligenzija Wirkungslosigkeit vorgeworfen worden und in der Tat ist ein beträchtlicher Teil der von ihr aufgebrachten kritischen Energie verpufft. Verantwortlich dafür sind nicht nur die Hinderungsmaßnahmen der jeweiligen Macht, sondern auch Gründe innerhalb der Intelligenzija selbst: Allzu oft hat sie einem Hang zum Idealisieren nachgegeben, Utopisches und Machbares verwechselt, dazu kommt ihre notorische Zerstrittenheit untereinander.

Immer wieder ist ein beträchtlicher Teil der von der Intelligenzija aufgebrachten kritischen Energie verpufft

Gerade in den Jahrzehnten vor der Oktoberrevolution 1917 sind viele Vertreter der Intelligenzija gezielt »ins Volk gegangen« und haben intellektuelle Graswurzel-Initiativen gestartet, um den »einfachen Menschen« zu mehr Bildung und Bewusstsein ihrer menschlichen Würde zu verhelfen. Wie weit diese Bemühungen erfolgreich waren, darüber streiten sich die Historiker. Völlig versiegt sind sie jedenfalls nie: Gerade heute wieder verdanken sich viele gemeinnützige Projekte, wie Hospize, AIDS-Hilfen oder private Sommerlager für Kinder, die meist mit einem Bildungsanspruch verbunden sind, wieder der persönlichen Initiative einzelner Vertreter der gebildeten Gruppen.

Aber auch in der russischen Medienlandschaft ist die Intelligenzija sehr aktiv. Zwar ist ein Großteil der russischen Medien, vor allem das allmächtige Staatsfernsehen, vom Staat kontrolliert und gehört damit fest zum Faktor Macht. Neben dem Staatsfernsehen gibt es jedoch auch einen kleineren Sektor von unabhängigen Medien, vor allem im Online-Bereich, die eng mit dem Milieu der Intelligenzija verbunden sind. Relativ junge Beispiele sind das Kulturmagazin »Colta« oder das politisch und wirtschaftsthematisch orientierte Portal »republic« (zuvor »slon«), aber auch Klassiker, wie die für ihre investigativen Recherchen bekannte »Nowaja Gaseta«, die schon 1993, in den Pionierjahren des unabhängigen russischen Journalismus, gegründet wurde, gehören in diesen Bereich.

Die unabhängigen Medien, vor allem im Online-Bereich, sind eng mit dem Milieu der Intelligenzija verbunden

Im Westen sind diese Medien meist kaum bekannt und auch in Russland ist ihre Reichweite sehr begrenzt. Von der Macht werden sie als Nestbeschmutzer wahrgenommen, zum Volk dringen sie häufig nicht durch. Dennoch findet heute der öffentliche politische Diskurs mehrheitlich in diesen Medien statt — das ist etwa so, als würden die Online-Ausgaben von Spiegel, ZEIT und FAZ ausschließlich von Insidern einer hochspezialisierten intellektuellen Subkultur gelesen. Unter den Faktoren, von denen her ein gesellschaftlicher Wandel in Russland seinen Ausgang nehmen kann, sind die Portale der Intelligenzija mit den auf ihnen verhandelten Fragen und Themen sicher einer der bedeutendsten.

Modell und Wirklichkeit
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Macht, Volk und Intelligenzija sind keine Kasten wie in Indien, sie sind auch keine US-amerikanischen Parteien oder klar voneinander abgegrenzte »Klassen«. Man wird sie in Russland in Fleisch und Blut nicht finden. Sie sind Schablonen, die man auf die Gesellschaft auflegen kann, um Strukturen in ihr zu entdecken. Prototypen, die durch das Land und seine Menschen hindurchschimmern. Weder ist die ganze Intelligenzija immer und ohne jede Ausnahme oppositionell noch sind Volk oder Macht für sich genommen einheitliche Gebilde. Auch die Durchmischung der Elemente des Modells ist weitaus größer, als die Trennung in drei Gruppen es nahelegt: So werden etwa die Grenzen zwischen Volk und Intelligenzija, nicht zuletzt dank des Internets, des relativen Wohlstandes und der Reisefreiheit, mehr und mehr fließend. Nimmt man dies zusammen mit der vermehrten Ausreise der gebildeten Schichten, so wird verständlich, weshalb auch gelegentlich von einer »Auflösung« der Intelligenzija die Rede ist.

Die Grenzen zwischen Volk und Intelligenzija werden, nicht zuletzt dank des Internets, des relativen Wohlstandes und der Reisefreiheit, mehr und mehr fließend

Was die Macht betrifft, so befinden sich ihre verschiedenen Vertreter oft in Konkurrenz, sogar im offenen Kampf miteinander. Vor allem aber gibt es innerhalb der Macht neben konservativen auch progressive Elemente, neben solchen der »alten grauen Garde« auch die einer weltoffeneren Transparenz. Putin verkörpert sicherlich das erstere, der ehemalige Wirtschaftsminister Alexei Kudrin, dem jetzt wieder mehr Einfluss nachgesagt wird, kann als Beispiel für letzteres gelten. Auch diese gemäßigten Strömungen, so wenig dominant sie derzeit sind, zählen zu den Faktoren, die Perspektiven für einen Wandel bieten.

Ein Denkmal in Berlin-Treptow gedenkt der gefallenen Soldaten der Roten Armee während des Zweiten Weltkriegs. — Quelle: Drrcs15 CC BY-SA

Offene Arme …
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Versucht man, sich in Sachen Russland zu orientieren, so bieten sich zwei gegensätzliche Positionen an. Die eine setzt auf Nähe und Partnerschaft, die andere auf Abwehr und Distanz. Bei all seiner Primitivität kann das Modell aus Macht, Volk und Intelligenzija sehr nützlich dabei sein, beide Alternativen zu durchleuchten.

Die erste Position folgt dem Impuls, die Hand zu reichen. Sie meint: Gerade der weltpolitisch selbst so vielfach belastete Westen sollte sich Russland nicht mit dem Instrumentarium des Drohens und Strafens nähern, sondern mit dem der Offenheit und der Kooperation. Dann, so ist die Hoffnung, wird auch das verschwinden, was uns derzeit als russische Aggressivität erscheint. Es geht darum, auf die Gemeinsamkeiten zu setzen: Es gibt so viel, was wir mit Russland gemein haben, so viele Überlappungen in der Kultur, in der Geschichte.

Sicher, Verständigung ist die Grundlage jeden Zusammenlebens. Doch muss man sich die Frage stellen, von welchem Russland hier die Rede ist. Die Kultur jedenfalls, die uns Europäern so nah ist, wurde zum weitaus größten Teil nicht vom Russland der Macht hervorgebracht, sondern vom Russland der Intelligenzija — wobei die Rolle des Volkes, auf das die Intelligenzija einwirken wollte oder von dem sie inspiriert wurde, nicht zu unterschätzen ist.

Man muss sich die Frage stellen, welchem Teil Russlands man die Hand reichen will, und welche Folgen dies jeweils hat

Streckt man dann aber nicht einem dieser beiden, sondern der Macht die Hand hin, dann kann die Reaktion anders ausfallen als erwartet. Denn man hat es dann zu tun mit einer Instanz, bei der rationales Kalkül und technokratischer Pragmatismus sich vermischen mit oft geradezu phantastischen Ideologien der »russischen Welt«, mit einem lang etablierten Usus der Indifferenz gegenüber den Schwächeren und den Minderheiten, mit einer völligen Abwesenheit von kontrollierenden, korrigierenden Gegenkräften und mit einer langen Liste an Beispielen manifester Brutalität.

Russland kann eben nicht gleichgesetzt werden mit dem Russland der Macht — ein Unterschied, den man allzu leicht aus dem Blick verliert. Auch die Brandtsche Ostpolitik, ohne Zweifel ein gelungenes Beispiel der internationalen Verständigung, war keine einseitige Politik der offenen Arme, ihre Devise lautete: Wandel durch Annäherung. Einen Wandel durch Einwirkung von außen hervorrufen zu wollen, ist aber in der derzeitigen Situation kaum realistisch.

Wladimir Putin und Donald Trump treffen sich erstmal persönlich beim G20 Gipfel in Hamburg im Juli 2017. screenshot Video reuters

… vs. militärische Bollwerke
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Bedingungslos dem Bedürfnis nach guter Verständigung nachzugeben, führt also schnell zu einem heftigen Zusammenprall mit der Realität. Doch auch die Gegenposition geht für sich genommen nicht auf. Russland, so hört man ja nicht weniger oft, muss eingedämmt werden, ja sogar abgewehrt. Die jüngsten Stationierungen von NATO-Truppen in den baltischen Staaten und in Polen folgen — bisher Extreme weitgehend vermeidend — dieser Strategie.

Einerseits natürlich ist die Logik zwingend: Auf die Aggressionen, die etwa die Ukraine erfahren hat, nicht zu reagieren, wäre falsch. Zudem gibt die sowjetische Geschichte, an die das heutige Russland seit ungefähr zehn Jahren mehr und mehr anknüpft, genug warnende Beispiele für die Rücksichtslosigkeit der Macht, von der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands 1956 und des Prager Frühlings 1968 bis hin zu den beiden Tschetschenienkriegen.

Nur auf Eindämmung und Abschreckung zu setzen, liefert der Macht die ideale Bestätigung ihrer Idee der »vom Westen belagerten Festung«

Fast ein halbes Jahrhundert lang teilte sich die Welt klar in Ost und West. Die Grenze mitten durch Deutschland, wie hier am Brandenburger Tor in Berlin. — CC0

Fazit — итоги
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Doch andererseits: Sich auf ein geopolitisches Kräftespiel wie im 19. Jahrhundert einzulassen, liefert dieser Macht die ideale Bestätigung ihrer Idee der »vom Westen belagerten Festung«. Dies gibt der aggressiven Stimmung weitere Nahrung und zementiert damit den Mechanismus des innerrussischen patriotischen Gesellschaftsvertrags, von dem oben die Rede war. Gerade diejenigen Strömungen innerhalb der russischen Macht, mit denen eine Verständigung am wenigsten möglich ist, werden so gestärkt. Mit der Hoffnung, es könne sich langfristig eine friedliche, kooperative, globale Zivilisation unter Teilhabe Russlands entwickeln, lässt sich das nur schwer vereinbaren. Dabei ist die Frage, inwiefern für die osteuropäischen Länder von Russland derzeit überhaupt eine konkrete Bedrohung ausgeht, alles andere als geklärt.

Die Lage, zeigt sich, ist kompliziert. Egal ob wir Außenpolitiker sind oder einfach interessierte Bürger, die sich eine Meinung bilden wollen — wir können uns nicht mit pauschalen Ideen über das eine Russland begnügen. Was auch immer wir hier bei uns tun — ob wir Sanktionen verhängen oder aufheben, Truppen stationieren oder abrüsten, ja selbst die Wortwahl in der diplomatischen Rhetorik — alles wirkt sich auf das ganze System von Macht, Volk und Intelligenzija in Russland aus (und natürlich noch auf sehr viel mehr, von dem hier nicht die Rede sein konnte). Bei jedem durchgespielten Szenario muss daher das ganze System im Blick bleiben.

Es zählt jetzt das Fingerspitzengefühl: Dialog, wo es möglich ist, klare Signale, wo es nötig ist

Dafür, wie es weitergehen soll, haben weder die Verfechter einer Verständigung um jeden Preis noch die einer rigorosen Abschreckung, weder die Tauben noch Falken einen gangbaren Weg zu weisen. Was zählt in der derzeitigen Situation ist die richtige Mischung, das Fingerspitzengefühl: Dialog, wo es möglich ist, klare Signale, wo es nötig ist. Und wenn überhaupt ein Tier um Rat gefragt werden kann, dann wäre es wohl die Eule, dieses ureuropäische Symbol der Mäßigung, der Weisheit, der vorausschauenden Abwägung. Überhaupt sollten wir Europäer in diesen wichtigen Fragen, die uns unmittelbar selbst betreffen, es weniger den großen Mächten im Osten und im Westen überlassen, die Agenda zu setzen, und uns mehr um eigenes, gemeinsames Handeln bemühen — aber das steht bereits auf einem gänzlich anderen Blatt.


Ursprünglich verfasst im September 2016 für Perspective Daily.



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