Dies ist der erste Teil von Schiefer Spagat – eine narrativ-perspektivische Analyse des Russland-Problems. Zum Projekt gehören ausserdem die Teile II: Entflixungen, III: Der Apparat und IV: Management.
Zeichnungen und Erläuterungen (Blurbs) sind Entwürfe / teils noch zu ergänzen. Technik: dynamisches Pleks-Inhaltsverzeichnis für Mobilgeräte wird noch implementiert.
Die Kluft
Was soll man von Russland denken? Ist Russland ein fürchterlicher Troll- und Schurkenstaat, verantwortlich für die Hälfte aller Übel dieser Welt? Oder einfach nur ein Land mit etwas anderen Voraussetzungen, das vom Westen missverstanden und falsch behandelt wird? Und im einen wie im anderen Fall: Wie soll man dann mit Russland umgehen ?
Deutschland ist über diese Frage tief gespalten. Zwei Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber. In der Politik, in den Medien, ja sogar in der Wissenschaft, aber auch unter Kollegen, Freunden, Familienmitgliedern.
Für die einen ist Russland – das offizielle Russland, der Kreml – ein rotes Tuch, eine Gefahr für Frieden und Demokratie, die man mit allen Mitteln in Schach halten oder gar bekämpfen muss. Die anderen schlagen angesichts solcher Ansichten die Hände über dem Kopf zusammen. Sie fordern, Russland und seine Interessen zu respektieren, sie sehen in ihm einen zu Unrecht verschmähten Partner für Europa, manche gar ein politisches und gesellschaftliches Vorbild. Der Versuch, Russland einzudämmen, wäre für sie nicht Verteidigung, sondern verantwortungslose Eskalation.
Die einen werden gerne – und nicht besonders geistreich – „Russland-Kritiker“ genannt, manchmal auch „Russophobe“, die anderen „Russland-Versteher“ oder „Putin-Versteher“. Da es nicht um ganz Russland geht (und auch nicht nur um Putin), sondern um eine Regierung und das dahinterstehende System, sollte man eher von „Kreml-Kritikern“ und „Kreml-Toleranten“ (oder auch „Kreml-Freundlichen“) sprechen. Doch letztlich ist auch ohne solche Worte klar: Es gibt zum Thema Russland einen Abgrund, eine Kluft.
Eine inhaltliche Auseinandersetzung zwischen beiden Gruppen findet nicht statt. Man verständigt sich nicht über das, worin man sich einig werden könnte, man streitet nicht über das, worin man es nicht ist. Statt dessen beschimpft und diffamiert man einander – oder man ignoriert sich. Nicht ohne Grund entsteht der Eindruck, die beiden Lager lebten in verschiedenen Welten, in voneinander vollkommen entkoppelten Wirklichkeiten. Keine gute Situation bei einem Thema, von dem soviel abhängt – in Europa, aber auch weit darüber hinaus.
eine Position
Auch ich war immer klar auf einer Seite.
Ich kam 1996 nach Russland. Es war eine Zeit der Verwirrung und zugleich eine Zeit des Aufbruchs – für Russland wie auch für mich selbst.
Russland war das genaue Gegenteil des übersättigten und wohlgeordneten Europa. Man wusste nie, was am nächsten Tag passieren würde. Die Zukunft war offen. Würden sich Staat und Gesellschaft nach westlichem Vorbild entwickeln? Würde etwas ganz anderes aus ihnen werden, etwas, das womöglich sogar dem Westen neue Impulse geben könnte? All das schien denkbar. Nur an eine Rückkehr des sowjetischen Geistes, der Stagnation, der Freiheits-Einschränkungen, der sinnentleerten Ideologie glaubte niemand. Zumindest in meinem näheren Umfeld.
Die Russen, die meine Freunde wurden – Studenten, Künstler, Musiker, junge Unternehmer – waren froh, dass das Sowjet-Imperium zusammengebrochen war. Endlich konnte man sagen und schreiben, was man wollte. Viele reisten das erste Mal ins Ausland.
In unserer Moskauer Subkultur gab es ständig neue Initiativen, neue Experimente. Junge Leute, gerade von der Universität, gründeten politische Tageszeitungen und Stadtmagazine. Atomphysiker versuchten sich im Bankgeschäft, Metallurgen im Ölvertrieb. Freunde von mir, damals noch Studenten der Literaturwissenschaft, eröffneten halblegale Wohnungsbars – im russisch-intellektuellen Geist, mit aktueller Musik am Abend, kurioser Kunst und Buchverkauf. Sie wurden zu Treffpunkt und Lebensraum einer ganzen Generation – der anderen „neuen Russen“, denen es nicht um Klunker und Millionen ging, sondern um Kultur, Geist, Lebensfreude.
Natürlich, nicht alles, was damals begonnen wurde, wurde ein Erfolg. Manches war zu naiv, zu utopisch gedacht, anderes versank im zähen Sumpf der russischen Wirklichkeit oder wurde von Korruption und Gangstertum zunichtegemacht. Aber der Vorrat an Möglichem erschien uns unerschöpflich, und wir waren sicher: das Neue würde die Oberhand behalten.
Und dann, zum Jahrtausendwechsel, kam Putin.
Schon Putins Weg zur Präsidentschaft wurde begleitet von einer Katastrophe. In mehreren russischen Städten zerrissen Explosionen die Nacht, Wohnblocks stürzten in sich zusammen, Hunderte unschuldige Menschen starben im Schlaf. Waren tschetschenische Terroristen verantwortlich, wie es offiziell hiess? Angst und Wut über die Anschläge halfen Putin ins Amt. Aber einige seltsame Indizien sprachen auch dafür, dass die russischen Geheimdienste, berüchtigt für ihre Skrupellosigkeit, ihre Hand im Spiel gehabt haben könnten. Die Sache wurde niemals aufgeklärt.
Wenig später wurde der wichtigste unabhängige Fernsehsender zerschlagen – unter anderem, weil er Zweifel an der offiziellen Version der Anschläge geäussert hatte.
Spezialtruppen, mit Maschinengewehren bewaffnet, nahmen in einer filmreifen Kommandoaktion den Oligarchen Michail Khodorkovskij fest, der sich als Kritiker der neuen Regierung positionierte. Seine Betriebe wurden kremlnahen Wirtschaftsführern zugeschanzt.
Die Kirche wandelte sich immer mehr zu einem Ministerium für staatstragende Spiritualität. Stalin wurde de facto rehabilitiert, die Archive wieder geschlossen.
Eine kurze Epoche ging zu Ende.
Die Wohnungsbars meiner Freunde, längst zu regulären Cafés an städtischen Boulevards herangewachsen, galten nun als Hort der Opposition – der sogenannten „fünften Kolonne“ der Volksverräter. Unter meinen Bekannten begann man von Emigration zu reden, mehr und mehr verliessen tatsächlich das Land.
Und auch ich ging Schritt für Schritt wieder in den Westen.
Vor dort aus verfolgte ich 2008 den Krieg zwischen Russland und Georgien, bei dem nie richtig klargeworden ist, wer die Rolle des Provokateurs gespielt hat. Dann kamen die Olympischen Winterspiele in Sochi mit ihren durch Staatsdoping erschwindelten Medaillen. Dann 2014 Krim und Donbass.
Wenn ich die Worte „Putin“ oder „Kreml“ hörte, stieg mir der Puls vor Wut. Der Kreml, Putin: Sie waren es, die das Land wieder zu einer Festung der Lüge machten. Ihre einzige Möglichkeit, selbst zu bestehen, lag darin, das Gelingen von anderen zu zerstören. Aus zynischem, vulgärem Kalkül hatten sie sich den Osten der Ukraine unter den Nagel gerissen, um diesem Land, da es sich ihnen nicht unterwerfen wollte, die Zukunft zu rauben. Aus dem gleichen Kalkül heraus taten sie alles dazu, in Europa Zwietracht zu säen und den Westen zu schwächen. Dieser Kreml trat offen als ein Feind auf – nicht nur als ein politischer Gegner des Westens, sondern als ein Feind des Fortschritts, der Aufklärung, ja der Wahrheit, ja der Menschlichkeit selbst.
Wie konnte man davon reden, er könne ein Partner sein? Wie konnte man den Plan gutheissen, noch mehr Rohstoffe bei Russland zu kaufen? Wie konnte man denken, mit diesem politischen Akteur liesse sich eine gemeinsame Sicherheitsstruktur für Europa entwickeln?
Diejenigen, die solche Positionen vertraten, erschienen mir in der Tat blind, unwissend. Verrückt.
Umdenken
Einiges hat sich seitdem geändert – weniger, was Russland angeht, als bei mir selbst.
Seitdem ich nicht mehr in Russland lebe, habe ich mich viel mit dem Land beschäftigt. Paradoxerweise vielleicht mehr als zu der Zeit, als es noch meine zweite Heimat war. Und nicht nur mit dem Land selbst, sondern auch mit den zahlreichen, teils sehr grundsätzlichen Fragen, in die das Problem „Russland und der Westen“ eingebettet ist. Und ich habe – in mancher Hinsicht – umgedacht. Dazu vier Schlaglichter.
Das erste Umdenken betraf meine eigene Wahrnehmung. Mir wurde, je mehr und je mehr Unterschiedliches ich über Russland las, je mehr ich mit Menschen sprach, die andere Erfahrungen gemacht hatten als ich, immer klarer, wie einseitig mein Bild von dem Land war und wie stark es von der intellektuell-künstlerischen Gesellschaft bestimmt wurde, in der ich gelebt hatte.
Für viele, vermutlich für meisten Russen waren die 1990er Jahre eben keine vielversprechende Zeit der Befreiung und des Aufbruchs gewesen. Sondern eine Zeit der Demütigung, der Armut, der schwachen (und oft betrunkenen) Staatsführung, der Anarchie. Für diese Menschen waren daher die Ereignisse, die mich so empört hatten – die Zerschlagung der Vielfalt der Massenmedien, der Rechtsmissbrauch gegen Oppositionelle, die „konservative Wende“ hin zur Proklamation von Patriotismus und sogenannten traditionellen Werten – vergleichsweise bedeutungslos oder, als ein notwendiges Mittel zum Zweck, sogar begrüssenswert.
Es fiel mir schwer, das einzusehen, und ich bin dadurch auch nicht zu einem Vertreter der Kreml-Linie geworden. Aber ich kann nun besser Putins Rückhalt in der Bevölkerung verstehen. Er hat Russland nicht nur autoritärer gemacht, sondern ihm auch mehr Struktur gegeben. Viele zumindest sehen es so, und nicht ohne Grund.
Zweitens: Nicht nur mein Bild von der Gegenwart, auch das von der Geschichte Russlands ist reicher und detaillierter geworden. Und es zeigt mir: Der Putinsche Kreml entstand nicht aus dem Nichts. Nicht allein dadurch, dass ein geheimdienstlich-banditischer Clan um einen korrupten Petersburger Funktionär ein demokratisches Staatssystem gekapert hätte. Die Missachtung der Verfassung, die Überhöhung der Rolle des Präsidenten, der Groll gegen den Westen – all das gab es bereits in der Jelzin-Zeit. Und natürlich lassen sich ihre Wurzeln noch weiter zurückverfolgen.
Betrachte ich heute den Übergang zwischen den 1990er und den 2000er Jahren, den ich selbst in Russland miterlebt habe, so sehe ich nicht mehr nur den Bruch, sondern auch die Kontinuität zwischen beiden Epochen. Mir ist klar, woran ich früher nicht glauben wollte: Geschichtliche Voraussetzung verändern sich nicht von heute auf morgen. Demokratien und Rechtsstaaten entstehen nicht per Dekret. Für einen Wandel in Russland braucht es einen dauerhaften politischen Willen – und vor allem viel Zeit.
Drittens: die politische Theorie. Ich wusste früher vielleicht gar nicht – so scheint es mir jedenfalls, wenn ich jetzt zurückdenken – dass ich überhaupt eine politische Theorie hatte. Ich lebte einfach in ihr – ganz selbstverständlich.
Es war die politische Theorie des Liberalismus. Inzwischen habe ich mich auch mit anderen politischen Theorien beschäftigt – vor allem mit den sogenannten „realistischen“ (wir kommen auf beide noch zu sprechen). Und ich habe verstanden, dass auch der Realismus keineswegs absurd ist oder dumm. Zwar kennt auch er nicht die Lösung unserer politischen Probleme – aber er hat uns Wichtiges zu sagen.
Denn sicher: Demokratie und Menschenrechte, die grossen Leitbilder des westlichen liberalen Denkens, an denen auch ich die Vorgänge in Russland immer gemessen habe, sind mächtige, wertvolle, ehrenvolle Ideale. Vielleicht die einzigen, die das Zeug dazu haben, das friedliche Zusammenleben der Menschen und Staaten auf diesem Planeten voranzubringen. Aber was machen wir, wenn eine Regierung diese Ideale nicht an erste Stelle setzt? Wir können sie weder ins Gefängnis stecken noch auf jeden Umgang mit ihr verzichten.
Wie weit erstreckt sich hier der Bereich des Tolerablen? Wie sinnvoll sind Einwirkungsversuche auf Staaten, die diesen Idealen nicht gerecht werden – sei es durch Sanktionen und Boykotte, sei es durch Angebote an die Zivilgesellschaft? Wann bringen solche Massnahmen das Gegenteil des Gewünschten hervor?
Ich sehe heute mehr als noch vor einigen Jahren die Notwendigkeit, dass Politik sich der Realität stellen muss. Ihre Aufgabe ist es, in jeder einzigartigen Situation die aufs Ganze gesehen beste Lösung zu finden. Universelle Prinzipien und Ideale sind dabei eine wichtige Orientierung – aber nur eine unter vielen. Wenn man sein Handeln ebenso auch am Praktikablen abstimmt, so ist dies nicht zwangsläufig ein Verrat an den eigenen Werten. Es kann auch ein Gebot der Klugheit sein. Und folgt man dem, dann fragt sich in der Tat, ob der Westen nicht viele Probleme, die im Umgang mit Russland entstehen, sich selbst zuzuschreiben hat.
Und ein viertes Mal habe ich umgedacht, was meine Bereitschaft betrifft, zu urteilen. Ich bin nun viel zurückhaltender geworden. Verantwortlich dafür ist die haarsträubende Komplexität der Situation. Vor allem ihr ist dieses Projekt gewidmet.
Die Anzahl von Faktoren, die eine Rolle spielen, ist immens, exorbitant, und sie stammen aus den verschiedensten Dimensionen.
Man muss sowohl die Geschichte der jeweiligen beteiligten Akteure, in Russland wie im Westen, in Anschlag bringen wie ihre aktuellen Interessen und ihre jeweiligen inneren politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen Verfasstheiten. Man muss globale Ordnungsinstanzen wie das Völkerrecht oder die UNO mit betrachten und ihre Rolle in der Problem-Konstellation einschätzen und bewerten. Man hat es zu tun mit weichen, kaum dingfest zu machenden Faktoren wie den Charakteren und Persönlichkeiten von Staatsführern, dem kollektiven Verhalten von Bevölkerungen, der Rolle, die nicht-staatliche Akteure wie die Wirtschaft oder zivilgesellschaftliche Vereinigungen in der Problem-Dynamik spielen. Man ist zudem konfrontiert mit einer unerschöpflichen Anzahl von Ambivalenzen: von Ereignissen, die sich so oder so betrachten lassen, von moralischen, ja metaphysischen Fragen, auf die sich prinzipiell keine eindeutigen Antworten geben lassen. Dazu kommen neue, bisher nur unvollständig verstandenen Fragestellungen, wie etwa die, welche Auswirkungen die Medien, vor allem deren bewusste und unbewusste Manipulation, auf das ganze Problem-Gefüge haben.
Es ist fraglich, ob irgendjemand dies alles im Ganzen überblicken kann. Und selbst wenn, ob er in der Lage wäre, aus dem hyperkomplexen Zusammenspiel all dieser Faktoren, die einander auf die vielfältigste Weise gegenseitig beeinflussen, ein verlässliches Urteil, ja gar eine belastbare Handlungsempfehlung abzuleiten.
Wenn das aber nicht der Fall ist, dann muss man sich fragen, mit welchem Recht überhaupt einer sagen kann: Dies und das ist meine Position, und ich weiss, warum.
Insbesondere, wenn dieser „eine“ man selbst ist.
Denn letztlich ist nur eines fraglos und sonnenklar: Dass im Fall des Russland-Problems alles immer viel schwieriger ist, als es zunächst scheint.
Deshalb erscheint mir heute der wichtigste Schritt, den einer tun kann, wenn er über das Russland-Problem zu einem Urteil gelangen will, der Schritt zurück. Der Schritt auf Abstand. Erst wenn man den vollführt hat, kann man begründet, reflektiert, und ohne vorschnellen Reflexen aufzusitzen, Position beziehen.
schiefer Spagat
Diese vier Einsichten – in die biografisch bedingte Perspektivität der eigenen Wahrnehmung, in die Trägheit der historischen Ausgangsbedingungen, in das Spannungsverhältnis zwischen politischen Idealvorstellungen und politischer Realität, in die exorbitante, geradezu astronomische Komplexität des Russland-Problems, die jedes vorschnelle Urteilen verbietet – haben mich ein gutes Stück weit aus dem anti-Kreml-Lager vertrieben, in dem ich mich zuvor mit solcher Bestimmtheit und Eindeutigkeit verorten konnte.
Ich sage bewusst: ein gutes Stück weit, denn ins andere Lager, in das der Kreml-Freund oder Kreml-Toleranten hineingetrieben haben sie mich auch nicht.
Ich bin kein Putin-Versteher geworden. Wohl aber ein Putinversteher-Versteher.
Was zu einer nicht eben angenehmen Lage führt. Die meiste Zeit empfinde ich sie als eine Art Spagat: Mit dem einen Bein im einen Lager, mit dem anderen im anderen, wobei dieser Spagat ganz klar ein schiefer ist (das anti-Kreml-Bein trägt viel mehr Last als das pro-Kreml-Bein), und man sich sowieso fragen kann, ob die Breite der Kluft einen solchen Spreizstand überhaupt erlaubt: Die dafür notwendige Beinlänge ist in der menschlichen Statur nicht vorgesehen.
Ich würde nicht so viel von mir selbst reden, wenn ich glaubte, dass ich der einzige wäre, der unter derartigen Zerrissenheiten zu leiden hat. Ich bin überzeugt, dass es vielen anderen ähnlich geht – wenn auch vielleicht mit einer anderen Gewichtsverteilung im unmöglichen Spagat. Und dass man nur deshalb nichts davon hört, weil gewissermassen die Worte fehlen, in die man solch ein mit sich selbst im Konflikt liegendes Urteilen fassen könnte.
Insbesondere, könnte ich mir vorstellen, sind diejenigen hin- und hergerissen, die sich dem Russland-Problem von aussen nähern, unvorbelastet von bestehenden Meinungen, quasi von Null. Wie mein Freund Jan.
Jan
Jan ist Prüfingenieur bei Siemens und wird demnächst für ein paar Monate in die Moskauer Konzern-Niederlassung versetzt. Weil er ein sehr gewissenhafter Mensch ist, liest er jetzt schon, zur Vorbereitung, alles, was ihm zu Russland in die Finger kommt.
Neulich kam er bei mir vorbei.
– Ich weiss da wirklich nicht mehr – sagte er – was ich denken soll. Im Netz zum Beispiel. Da gibt es, bei den Journalisten, doch diesen, warte mal … Boris Reitschuster. Wenn man den liest, hat man den Eindruck, im Kreml treibt der Teufel persönlich sein Unwesen. Weiss der, wovon er spricht?
– Weiss er. Er ist manchmal ein bisschen extrem für meinen Geschmack, aber er kennt sich bestens aus. Steht auch viel an seiner eigenen Erfahrung dahinter.
– Ok. Dann mal andersherum. Ich lese ja viel Technik-Sachen, heise.de, telepolis. Da schreibt ein Ulrich Heyden über Russland. Und bei dem sieht das alles ganz anders aus. Da sind wir der Teufel, also der Westen, und Putin ist, grob gesagt, der Gute. Was denkst du von dem?
– Na, was er schreibt, ist nicht wirklich mein Ding. Aber auch der kennt sich aus. Wohnt glaube ich sogar in Moskau.
– Na gut. Also ich finde das höchst verwirrend. Diese Leute sind alle kompetent, und dennoch widersprechen sie einander vollkommen. Eine zeitlang dachte ich, das klärt sich auf, wenn ich mir ein wenig mehr Hintergrund verschaffe. Also habe ich mir mal dieses Buch von Gabriele Krone-Schmalz gekauft. Eiszeit. Über die Dämonisierung Russlands. Da analysiert sie, welche Fehler der Westen im Umgang mit Russland gemacht hat, und welche Verantwortung er selbst für die derzeitige Situation trägt. Meine Mutter hatte das gelesen und war ganz begeistert.
– Begeistert? Wirklich? Und was denkst du selbst?
– Warte warte. Ich habe mir ja nicht nur ein einziges Buch bestellt. Amazon schlägt einem doch immer auch noch gleich ein paar andere Titel vor. Da gibt es eine Menge, das in die gleiche Richtung geht wie Krone-Schmalz, aber eben auch völlig gegenteilige Dinge. Zum Beispiel von Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Das ist eine wirklich beeindruckende Analyse von dem, was gerade schiefläuft in unserer Welt. Und bei Snyder steht hinter all dem – na wer wohl.
– Putin, ich weiss.
– Also ich komme damit nicht zurecht. Das passt doch alles überhaupt nicht zusammen. Wenn ich nicht wüsste, dass es um das gleiche Russland geht … – Diese Leute sind doch in völlig verschiedenen Filmen unterwegs.
– Ja, das ist schon extrem polarisiert.
– Polarisiert? Du bist gut. Für mich ist das schizophren. Das sind keine Meinungsverschiedenheiten mehr, das ist ein kollektiver Realitätsverlust. Völlig schizo, wirklich. Ich fürchte, wenn ich so jetzt nach Russland fahre, mit so einem Doppelbild im Kopf, wo nichts mit dem anderen zusammenpasst, dann gibt das eine Katastrophe. Dann zerspringe ich noch am Flughafen in zwei Teile. In einen Jan A und einen Jan B. Und die können sich dann jeder ein Taxi nehmen, und … – ja, wohin dann?
– Na, erstmal in die neue Wohnung, oder? Übrigens – wo ist die denn?
– Gleich gegenüber von Siemens. In diesem Bezirk hinter dem Fluss, wie heisst das …
– Zamoskvorechie. Genau, Hinter-dem-Moskau-Fluss. Na, ist doch wunderbar. Gleich bei meiner alten Wohnung um die Ecke. Gibt da inzwischen ein Menge Cafés, kann man gut einen Nachmittag verbummeln.
– Das werde ich hoffentlich auch noch zu schätzen lernen. Aber jetzt würde ich trotzdem gerne erstmal ein wenig Ordnung in dieses Chaos in meinem Kopf bringen. Und ich dachte, dabei hilfst du mir.
– Und wie soll ich das tun?
– Also mir wäre mir schon ja genützt, wenn ich überhaupt erst einmal verstehen würde, was für verschiedene Gründe dahinterstehen, wenn Leute für oder gegen Putin sind. Oder für oder gegen den Kreml oder Russland oder wie man es sagen soll.
Diskurs-Soziologie
In der Tat geht es beim öffentlichen Streit ums Russland-Problem ja immer nur um eins: wer Recht hat. Die Frage, wer überhaupt von welchen Prämissen ausgeht und welchen Einfluss diese Prämissen auf die jeweilige Positionierung haben, wird so gut wie nie gestellt.
In anderen Fällen hingegen ist solch ein Blick hinter die Kulissen ganz selbstverständlich: Wenn Sozialisten und Wirtschaftsliberale um die Steuer streiten, dann wissen wir: Es geht dabei nur an der Oberfläche ums Geld im Staatssäckel. In der Tiefe treffen zwei Idealvorstellungen aufeinander: die der sozialen Gleichheit auf der einen, die der individuellen Freiheit auf der anderen Seite. Aber was entspricht, im Falle des Russland-Problems, der „Freiheit“ und der „Gleichheit“?
Bevor wir uns dieser Frage genauer zuwenden eine kleine, vielleicht auf den ersten Blick banale, Beobachtung. Nämlich: Es braucht nicht immer höhere Ideale, um Position zu beziehen. Der Grund dafür, dass jemand für die eine oder für die andere Seite ist, ist oft genug ganz einfach: Er oder sie gehört dazu. Die Seite, für die er sich ins Zeug wirft, mitunter äusserst leidenschaftlich, ist schlichtweg seine eigene.
Ich kenne da zum Beispielen einen jungen Mann, genauer ist es der boyfriend der Tochter einer Kollegin, der entfernt aus einer russischen Familie stammt (eine komplizierte Emigrationsgeschichte) und sogar einen russischen Vornamen trägt.
Er selbst – Mischa, so steht es in seinem Pass, nicht Michael, sondern eben: Mischa – spricht allerdings kein Wort Russisch, hat meines Wissens nach auch niemals sein historisches Heimatland mit eigenen Augen gesehen und unterhält auch sonst keine besonderen Beziehungen zu Russland (er studiert etwas im Bereich Informatik). Abgesehen natürlich von der Tatsache, dass er einen Onkel oder vielleicht auch Schwipp- oder Grossonkel besitzt, der in der Staatsduma sitzt oder auf irgendeine andere Weise ein hohes Tier im russischen Staatsapparat ist, so genau habe ich es nicht verstanden. Jedenfalls erzählt Mischa gern von ihm.
Und ebenso gern teilt er auf facebook Beiträge des russischen Auslands-Staatssenders RT und Glückwünsche zum Tag des Sieges. Und er trägt mit deutlich sichtbarer Freude T-shirts, auf denen Putin als „freundlicher Mensch“ zu sehen ist (der Euphemismus für Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auf der Krim) oder der sowjetische Panzer T-34. Und natürlich lässt er keine Gelegenheit ungenutzt, darauf hinzuweisen, dass die Krim „historische russische Erde“ sei.
Man könnte das als Unbedarftheit abtun, auch angesichts des Alters. Aber ich fürchte, so einfach ist es nicht.
Ich kenne andere Fälle. Einen, wo jemand aufgrund persönlicher Erkundungsreisen einen Narren an der Ukraine gefressen hat (mir ging es einmal ebenso mit Polen, bevor es mich noch weiter nach Osten verschlug), sich dann dorthin verheiratet hat und sich nun – man kann es ihm auch gar nicht übel nehmen – ausserordentlich stark mit der Majdan-Bewegung identifiziert.
Oder ich denke an eine junge Journalistin, deren Tante, ich glaube, sie heisst Oleksandra, sogar selbst auf dem Majdan demonstriert hat und nur durch Glück einer Verwundung entkommen ist (es gab eine schreckliche Geschichte mit einer abgeprallten Kugel, die eine neben ihr arbeitende Krankenschwester getroffen hat), und die sich nun in ihren Texten leidenschaftlich für die ukrainische Kultur, Sprache und natürlich Selbstverteidigung in die Bresche wirft.
Ist man erst einmal für diese Phänomen der Parteinahme aus Zugehörigkeit oder Loyalität empfindsam geworden, so entdeckt man es bald überall. Es setzt sich fort selbst in Bereiche und Personengruppen hinein, bei denen man denken sollte, dass ihr Anspruch auf Objektivität oder politische Verantwortlichkeit solche privaten Abhängigkeiten und Vorliebe deutlich überwiegen oder wirkungsvoll an den Rand drängen sollte.
Oft entdeckt treten dann Familiengeschichten zutage, prägende Studien- oder Reiseerlebnisse, Lektüren der einen oder anderen Art, Traditionen und Ansichten, die nebelartig, schemenhaft in den Sphären kursierten, in denen ein Mensch grossgeworden ist – und alle haben sie gewisse Grundeinstellungen mitverursacht, derer sich die Betroffenen oft gar nicht bewusst sind. Ich will mich selber da gar nicht ausnehmen. Ich habe oben bereits die Geschichte meiner eigenen Russland-Sozialisierung geschildert, und ich glaube in der Tat, wäre diese eine andere gewesen, dann hätte ich mich durchaus auch auf der anderen Seite der Russland-Diskurs-Spaltung wiederfinden können.
Aber Loyalitäten, Zugehörigkeiten sind natürlich nicht alles. Es gibt zahlreiche andere Faktoren, die Einfluss auf die Selbstpositionierung eines Menschen im Russland-Diskurs ausüben können, die auch inhaltlich interessanter sind und die zu kennen einem tatsächlich auch mehr Orientierung verschafft. Etwa kann man feststellen, dass Vertreter der Wirtschaft oder auch der Finanzwelt im Allgemeinen und der Tendenz nach eher Kreml-freundlich sind, Leute aus Menschenrechtsorganisationen wieder im Gegenteil eher Kreml-feindlich, dass die Kräfte am ganz linken politischen Rand ebenso wie die am ganz rechten meist dem Kreml mit Sympathie zugetan sind, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Beweggründen, unter den Juristen zum Beispiel hängt es wieder sehr von der Fachrichtung ab, bei Politologen von der Schule, der sie entstammen, bei Historikern oder Osteuropakundlern von –
total neutral
– Also das würde dir helfen, Jan, mal so aufgeschlüsselt zu sehen, warum gewisse Leute für oder gegen Russland beziehungsweise den Westen sind?
– Wie gesagt: Ja. Das wäre zumindest ein Fortschritt. Gibt das denn irgendwo?
– Nicht dass ich wüsste, leider. Aber es wäre sicherlich mal lohnend, so etwas zu machen. So eine Typologie oder Soziologie des Russland-Diskurses, nach dem Motto: Wer ist für was und warum? – Aber was würdest du denn sonst noch brauchen?
– Wie sonst noch?
– Na, um das Russland-Problem ein wenig zu entschärfen. Bevor du dich aufmachst in das Reich des Schreckens. Gäbe es da sonst noch etwas, das dir helfen würde?
– Ich denke ja. Weisst du, was ich gerne hätte? Neutralität.
– Neutralität.
– Ja, Neutralität. Die fehlt mir sehr. Ich habe ständig das Gefühl, alle wollen mir irgendetwas unterjubeln. In all den Büchern und Artikeln, die ich so lese. Die Autoren würden das sicherlich verneinen, aber es kommt bei mir trotzdem so an. Und es ärgert mich. Ich möchte nicht Texte lesen, die mich von irgendetwas überzeugen wollen. Ich möchte, dass mir Texte das Material vorlegen, um selbst zu urteilen. Solche Texte gibt es aber nicht. Ich habe sie jedenfalls nicht gefunden.
– Neutralität – das ist nun gerade kein bescheidener Wunsch.
– Er scheint mir aber auch nicht ausserordentlich unverschämt.
– In anderen Fällen vielleicht nicht. In diesem aber, fürchte ich, schon.
– Warum?
– Weil es mehr als fraglich ist, ob es beim Russland-Problem überhaupt Neutralität geben kann.
– Wieso sollte es sie nicht geben können?
– Aus mindestens zwei Gründe. Zum einen, weil es hier ja nicht nur um Fakten geht. Bei denen könnte man zumindest noch die Hoffnung haben, dass sie sich neutral darstellen lassen. Aber Fakten, die in den politischen Raum hineingelangen, benötigen eine Deutung. Und Deutungen finden immer innerhalb irgendwelchen Rahmen statt, sie hängen immer von Prämissen ab. Selbst wenn man die nicht dingfest machen kann. Neutral müsste man sich also nicht nur den Fakten gegenüber verhalten, sondern auch gegenüber diesen Rahmen oder Prämissen. Ob das möglich ist? Ich zweifle sehr daran.
Und der zweite Grund scheint mir nicht weniger prinzipiell. Man müsste ja, um neutral zu sein, erst einmal alle Details und Aspekte des Problem gleichzeitig präsent haben und überblicken. Und zwar wirklich alle. Die historischen, die theoretischen, die juristischen, die kulturellen, die psychologischen, die wirtschaftlichen, die moralischen … und sicher einige mehr. Ist eine solche Vollständigkeit überhaupt möglich? Niemand kann für alles Fachmann sein. Und wer nicht Fachmann ist, kann vieles nicht verstehen. Mir scheint das ziemlich aussichtslos zu sein. Man brauchte sozusagen die Totale, ohne dabei die Einzelansichten aus dem Blick zu verlieren.
– Die Totale. Genau. Total neutral. Genau das wäre es.
Kugeln
Nach Jans Besuch „sehe“ ich, wie man auf Russisch sagt, einen Traum.
Das heisst, ich sehe zunächst: eine Kluft.
Rechts ein Lager, links ein Lager, in der Mitte bodenloser Abgrund.
Das Bild kommt in Bewegung. Die Flanken des Geländeeinschnitts gleiten hoch. Der Grund der Schlucht wird sichtbar.
Dann kehrt das Bild sich um: Das Unten wird zum Oben, das Oben zum Unten. Als hätte jemand die Welt einmal um ihre Querachse gedreht.
Was vorher eine Kluft war, ist nun ein Grat.
An seinen beiden Seiten fallen Hänge steil hinab, an die sich Ebenen anschliessen: die pro-Kreml-Ebene und die Anti-Kreml-Ebene. (Im Traum weiss man solche Dinge, das heisst, man weiss, was die Ebenen bedeuten, auch wenn das nicht im Traumbild in Erscheinung tritt).
Und auf den Grat kommt nun, von vorderhalb des Bildes, eine Kugel gerollt. Auf ihr steht geschrieben: Mischa (oder steht auf ihr Kreml-Loyalität? Oder gar nichts? – Wieder wird ist die Bedeutung traumbewusst … – traumgewusst).
Die Kugel rollt ein wenig weiter auf dem Grat, doch der Grat ist schmal, sie kann sich nicht lange auf ihm halten. Sie rollt auf der pro-Kreml-Seite den Hang hinunter.
Eine nächste Kugel folgt. Auf ihr die Aufschrift (die gesehene oder traumgefühlte): Ukraine-Loyalität. Sie rollt – wenig überraschend – auf die andere Seite vom Grat hinunter, auf die anti-Kreml-Seite.
Und so geht es weiter. Eine Kugel nach der anderen rollt auf den Grat, jede versehen mit einer Aufschrift: Wirtschaft, Menschenrechte, Kulturkonservativismus, Liberalismus … Es sind Stichworte, die etwas markieren: individuelle weltanschauliche Einstellungen, politische Kernthemen und Präferenzen, Parameter, Prämissen, die einen Einfluss haben auf die Position im Russland-Diskurs. Und jede von ihnen läuft ein Stückweit auf dem Grat vorwärts, bis ihr Weg abkippt, sie auf der einen oder der anderen Seite den Hang hinunterrollt und schliesslich auf einer der beiden Ebenen liegen bleibt.
Zehn, zwölf, vielleicht auch vierzehn Kugeln laufen über den Grat. Rechts und links auf den Ebenen, wo sie ausrollen (und nicht allzuweit wegrollen, offenbar ist der Boden dort sandig oder anderweitig weich), bilden sich kleine Ansammlungen von ihnen.
Irgendwann versiegt der Kugelstrom. Die Gratlandschaft liegt bewegungslos da. Wenn ich jetzt versuche, mich an den Traum zu erinnern, dann scheint mir: Sie liegt da in gleissender Sonne, karg, still, lautlos, wie ein umgestülptes Death Valley. Über ihr brütet die Sonne. Grosse dunkle Vögel kreisen am Himmel.
Und dann erzittert die Erde. Auf den Grat wälzt sich, langsam, träge, wie in Zeitlupe, nur ganz allmählich beschleunigend, eine weitere, eine riesige Kugel. Eine Kugel von so gigantischem Ausmass, dass nur der unterste Teil ihrer Rundung überhaupt zu sehen ist – der Rest befindet sich weit über unseren Köpfen.
Unter ihr spritzen die von ihrem Gewicht zermalmten Steine hervor.
Und ich wache auf.
Comic
Am nächsten Tag setze ich mich hin und versuche, den Traum in Zeichnungen festzuhalten. Das gelingt mehr schlecht als recht: Ein Traum ist kein Kinofilm. Man „sieht“ im Traum das Nicht-Sehbare, das, was sich aus dem Wachzustand heraus meist noch nicht einmal vorstellen lässt.
Aber so unbeholfen meine Bilder sein mögen, so wenig sie vom eigentlichen Traumerlebnis erfassen – an eines habe ich doch noch eine gute Erinnerung: an die Kugeln und ihr jeweilige Symbolik. Kein Wunder, hatte ich doch über die Frage Wer ist wofür und warum, die Frage der Soziologie des Russland-Diskurses, bereits zuvor immer wieder nachgedacht, seit Monaten, vielleicht seit Jahren.
Also ergänze ich das Bild jeder Kugel um kurze Notizen: Eine Notiz zum Grund, aus dem die Kugel auf die eine oder die andere Seite fällt. Und eine andere dazu, was man einwenden kann gegen die Position, die von der Kugel jeweils symbolisiert wird.
Bei der Kugel Wirtschaft etwa, die auf der pro-Kreml-Seite heruntergerollt ist, schreibe ich dazu: Weil es aus unternehmerischer Sicht sinnvoll ist, gute Kontakte mit der Regierung zu pflegen, in deren Land man tätig sein will. Man könnte noch eine Menge ergänzen, zum Beispiel: Ausserdem tragen auch die wirtschaftlichen Kontakte etwas zur Verständigung zwischen den Völkern und den Kulturen bei – aber dafür ist in meiner Zeichnung kein Platz.
Auf der anderen Seite des gleichen Bildes trage ich ein: Andererseits müssen sich auch die wirtschaftlichen Akteure der Tatsache bewusst sein, dass ihre Aktivitäten aus einem anderen Blickwinkel durchaus problematisch sein können, nämlich aus dem der Menschenrechte oder dem der Sicherheitspolitik.
Ähnlich mache es ich es bei der nächsten Kugel, der Kugel der Menschenrechte, die auf der anti-Kreml-Seite hinuntergerollt ist. Denn mit den Menschenrechten sieht es unter der derzeitigen russischen Regierung weiterhin recht düster aus. Etwa gibt es viele notdürftig verschleierte Fälle politischer Inhaftierungen, sexuelle Minderheiten werden ausgegrenzt und abgewertet. Andererseits, wenn man bedenkt, wie es in Hinblick auf die Menschenrechte in anderen Ländern aussieht, mit denen wir grundsätzlich recht gute Beziehungen pflegen, in China etwa, gar in Saudi-Arabien …
Oder mit der Kugel der Ostpolitik*. Ja, in den 1980er Jahren haben Willy Brandt und Egon Bahr* eine Politik der Verständigung mit der Sowjetunion betrieben, die später, mit der härteten Abgrenzungspolitik der USA zu einer Art Zuckerbrot und Peitsche kombiniert, einen grossen Anteil an der Beendigung des Kalten Krieges gehabt hat. Aber lässt sich das heute wiederholen? Befinden wir uns nicht, mit einem wiedervereinigten Europa, in dem auch die osteuropäischen Staaten ihre berechtigte Stimme haben, in einer ganz anderen Situation? Moskau ist nicht mehr der einzige Pol, den Ostpolitik im Sinn haben muss …
Und so für eine Kugel nach der anderen: Ein Kästchen mit dem Warum, eins mit dem Aber. Es entsteht eine Art Comic:
ungleiche Lager und die Überkugel
Abends kommt Jan. Wir sehen uns jetzt öfter, so kurz vor seiner Abfahrt. Ich zeige ihm die Bilder.
– Ah, ja, das ist nicht schlecht, so etwas mal im Überblick zu sehen!
– Es ist natürlich nicht vollständig. Aber für ein paar wichtige Gruppen erkennt man immerhin, was sie so antreibt, und was sich jeweils dagegen sagen lässt. Ganz grob natürlich nur, ganz grob.
– Und auch die Onkeln und Tanten sind dabei!
– Natürlich!
– Und was ist das hier – hat das etwas zu sagen? Dass die Kugeln, unten auf den Ebenen, bei den pro-Kreml-Leuten so dicht auf einem Haufen liegen und auf der anderen Seiten, im anti-Kreml-Lager, völlig verstreut?
– Gut beobachtet! Jetzt könnte ich natürlich einfach sagen, ich habe es so gezeichnet, wie ich es im Traum gesehen habe, aber das wäre dann doch geflunkert. Ich habe mir das nachher überlegt.
Und dann die Kugeln liegen auf der pro-Kreml-Seite, um mit der zu beginnen, so weit auseinander gezeichnet, weil die die Gründe, die Motivationen, die Parameter, die zu einer kremltoleranten oder kremlfreundlichen Einstellung führen können, untereinander extrem verschieden sind. Denk nur mal an Kulturkonservativismus einerseits, Anti-US-Antiimperialismus andererseits. Die haben nichts miteinander zu tun. Die einen sind die ganz-rechten, die anderen die ganz-linken. Die einen tragen Anzug und Krawatte, die anderen Wuschelhaare und Bart. Wenn man die miteinander in ein Zimmer sperren würde, würde es schnell ziemlich hoch hergehen. Aber in ihrer Pro-Kreml-Einstellung sind sie sich einig. Nur eben aus völlig verschiedenen Gründen.
Oder nimm die Gruppen Ostpolitik und Wirtschaft.
Und so liegen die Kugeln auch da. Vereinzelt, verstreut, disparat.
– Und auf der Anti-Kreml-Seite ist das anders?
– Allerdings. Da sind sich im Grunde alle mehr oder weniger einig, wenn sie natürlich auch die Akzente unterschiedlich setzen. Aber sei teilen doch alle etwas, das man den westlichen liberalen Konsens* nennen könnten, mit einer hohen Priorität von Faktoren wie Völkerrecht, Demokratie und vor allem Menschenrechten … Übrigens. Liberalismus. Das ist ein wichtiges Stichwort in der ganzen Thematik. Wie auch, auf der anderen Seite, der Realismus. Für dich, als jemand, der eigentlich aus einer ganz anderen Richtung kommt – was verbindest du mit den Begriffen Liberalismus und Realismus? Konkret auf die internationale Politik bezogen, auf die Verhältnisse zwischen Staaten?
– Also wenn du so fragst … Da müsste ich erst einmal überlegen. Klar, Liberalismus, da geht es um Freiheit, um Demokratie. Bei Realismus … um die Wirklichkeit vermutlich, aber in welchem Sinne jetzt genau … Oder um Realpolitik? Wobei, was ist damit dann genau gemeint?
– Siehst du, noch vor zwei oder drei Jahren hätte ich genauso geantwortet. Ich glaube, wir haben es da mit einer ganz eigenartigen Situation zu tun. Fast jeder, der sich irgendwie, sagen wir, auf eine komplexere, durchdachtere, vielleicht auch abstraktere Weise positioniert im Russland-Problem, also nicht nur aus Sympathien oder Zugehörigkeiten heraus, vertritt auf die eine oder andere Weise ein liberales oder ein realistisches Denken – aber oft, ohne das selbst zu wissen. Und auf der anderen Seite kann man mit diesen beiden Begriffen, Liberalismus und Realismus, wenn man sich ihre tiefere Bedeutung bewusst macht, sehr gut eine Ordnung in den Russland-Diskurs bringen. Er fällt, wenn man diese Begriff als Spaltkeile ansetzt, einigermassen sauber in zwei Hälften auseinander. Einigermassen nur, aber immerhin.
– Das klingt interessant! Aber auch ein bisschen verwirrend. Kannst du mir da genauer …
– Gern mal, irgendwann, aber, Jan, ich schaue gerade nochmal auf die beiden Blätter hier, und da fällt mir auf: Ich habe meinen Traum ja gar nicht zu Ende aufgezeichnet! Warte mal. ––– Hier.
– Eine ziemlich grosse Kugel, scheint es.
– Genau. Eine sehr, sehr grosse Kugel.
– Und auf ihr steht nichts drauf.
– Tatsächlich nicht? Ach, das habe ich vergessen. Hier.
– Oh! Auf ihr steht alles drauf. Alles, das vorher bereits auf den anderen Kugeln stand.
– Genau. Dieses Kugel ist die All-in-eins-Kugel, die Über-Kugel, die Kugel der Kugeln, sozusagen. Und die rollt jetzt auch auf den Grat.
– Und was passiert dann?
– Das eben ist die grosse Frage. Wird sie auf dem Grat balancieren? Also immer in seiner Mitte bleiben, bis der Grat, nehmen wir einmal an, irgendwann abflacht und in einer Ebene ausläuft? Oder wird sie auch, wie die anderen Kugeln, zu einer Seite des Grates herunterrollen? Und wenn ja, zu welcher? – Was meinst du?
– Das hängt davon ab, denke ich.
– Wovon?
– Zunächst man davon, in welchem Verhältnis die Faktoren, die zuvor die kleineren Kugel jeweils auf die eine oder andere Seite abgelenkt haben, bei dieser grossen Kugel zueinander stehen. Wie sie miteinander abgemischt sind, sozusagen. Aber auch davon, ob überhaupt alle Faktoren oder Parameter erfasst worden sind, die zu einem Herabrollen in die eine oder die andere Richtung führen können. Oder ob es noch andere gibt, die in den kleinen Kugeln nicht auftauchten, die nun aber in so einer All-in-eins-Kugel dennoch enthalten sein müssten.
– Es hängt also davon ab, ob die Faktoren vollständig erfasst sind, und ob sie ohne Parteilichkeit und ohne Verzerrungen in der Kugel enthalten sind?
– So würde ich das denken, ja.
– Ich auch. Diese Kugel symbolisiert das, worüber wir neulich gesprochen haben. Das, was du dir wünscht, um dich im Russland-Problem besser orientieren zu können: Vollständigkeit und Neutralität. Es ist die total-neutral-Kugel.
– Und, was meinst du selbst? Gibt es sie? Balanciert sie?
– Ich weiss es nicht.
– Was sagt dein Traum dazu?
– Nichts. Er brach genau an dieser Stelle ab.
Liberalismus
Realismus und Liberalismus. Diese Worte sind zwei der wichtigsten Schlüssel zum Russland-Problem. Vielleicht überhaupt die wichtigsten.
Beide, Realismus wie Liberalismus, haben einen doppelten Charakter: Sie sind zum einen Theorien, mit deren Hilfe es möglich ist, die Beziehungen zwischen Staaten und anderen internationalen Akteuren zu analysieren. Sie sind aber zugleich auch Doktrinen, also Lehrmeinungen oder „Schulen“, nach denen tatsächlich politisch gehandelt wird. Beide haben also eine Bewandtnis sowohl für die Theorie wie auch für die Praxis.
Liberal heisst erst einmal, natürlich: freiheitlich (-> lat. libertas). Doch Liberalismen gibt es heute mindestens drei: den klassischen Liberalismus, den kulturpolitischen Liberalismus und den aussenpolitischen Liberalismus. Sie überschneiden sich und sind doch deutlich verschieden voneinander …
Jetzt wird es kompliziert.
Ich skizziere erst einmal.
Prinzipien
klassischer Liberalismus geht zurück auf Denker der englischen Aufklärung – John Locke, Adam Smith, John Stuart Mill – Gesellschaft wird vom Einzelnen, vom Individuum her gedacht (nicht mehr als Volk oder Untertan des Monarchen) – Individuum ist frei (-> Liberalismus) – Rolle des Staates: die Freiheitsrechte garantieren (Recht auf Eigentum, körperliche Unversehrtheit, freie Meinungsäusserung usw.*->Menschenrechte) (-> moderner Rechtsstaat)
Spielart des klassischen Liberalismus: Wirtschaftsliberalismus (v.a. Adam Smith, unsichtbare Hand des Staates, heute liberale Parteien, Neoliberalismus)
kulturpolitischer Liberalismus: Fokus auf Recht auf Selbstverwirklichung plus Gleichheit. diversity-Liberalismus. Aktuell durch Debatte um Identitätspolitik
aussenpolitischer Liberalismus (präziser: Liberalismus der internationalen Beziehungen oder IB-Liberalismus): Übertragung des klassischen Liberalismus auf die zwischenstaatliche Ebene. Alle Staaten sollen (wie zuvor alle Individuen) mit gleichen Rechten ausgestattet sein (unabhängig von ihrer Grösse oder militärischen Macht). Diese Rechte sollen den Umgang der Staaten miteinander regeln.
Gedanklich vorbereitet im 18. Jahrhundert von Autoren wie Abbé de Saint-Pierre, Jeremy Bentham, vor allem Immanuel Kant. Versuch, umzusetzen, seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.
Da es eine für alle Staaten verbindliche Rechtsordnung nicht „von vornherein“ gibt und sie auch nicht von einem einzelnen Staat über die Köpfe der anderen hinweg verordnet werden kann, müssen sich die Staaten diese Ordnung (das Völkerrecht) auf freiwilliger Grundlage selber geben. Damit sie eine Chance hat, zu funktionieren, braucht es eine Instanz, die die Einhaltung der Rechtsbeziehungen kontrolliert und auftauchende Konflikte regelt: internationale Institutionen (bis 1945 der Völkerbund, danach die UNO)
Konflikte sollen durch freiwillige Kooperation vermieden oder entschärft werden, die Staaten sollen auftauchende Probleme (auch globale) gemeinsam lösen. Ziel: eine friedliche, internationale Staatengemeinschaft
Voraussetzung dafür: die Staaten sind demokratisch
Dieser Punkt ist ganz zentral. Und er hat weitgehende Implikationen.
Hier also genauer. Wieso müssen die Staaten demokratisch sein? Wieso können nicht autoritäre, totalitäre, diktatorische Staaten Teil einer friedlichen internationalen Staatengemeinschaft sein (nach dem Liberalismus)?
Zwei Gründe. Erstens: politisches Argument. Demokratien sind friedfertig. Demokratische Staatsleute müssen sich einer Wiederwahl stellen, Krieg aber ist bei der Bevölkerung unbeliebt (zuviel Leid, unkomfortabel), also lassen sich demokratische Politiker weniger leicht zu Kriegshandlungen autoritäre (oder gar monarchische Herrscher). Prinzip des demokratischen Friedens. Wurde bereits von Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden skizziert. Praxis scheint es zumindest teils zu bestätigen.
Die zweite Quelle der Demokratisierungs-Anforderung ist eine ethische. Denn wenn man dem Menschen Rechte zuspricht, wie es bereits der klassische Liberalismus tat (und wie es auch in religiösen Vorstellungen wie der Gottesebenbildlichkeit angelegt ist), dann gelten diese Rechte für alle Menschen überall auf der Welt. Realisierung der Menschenrechte aber ist an demokratische Institutionen gebunden: eine Diktatur, die Menschenrechte durchsetzen wollte, wäre ein Widerspruch in sich (da sie das Menschenrecht der Freiheit nicht achtet). Insofern gilt: Menschenrechte und Demokratie gehen Hand in Hand, und die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte bringt auch die nach der Einführung von Demokratie mit sich – und zwar überall auf der Welt.
ZUSAMMENFASSUNG:
Liberalismus (aussenpolitischer Liberalismus, IB-Liberalismus) bedeutet die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen durch Völkerrecht, Überwachung und Regulierung durch internationale Organisationen, freiwillige Kooperation der Staaten in einer Staatengemeinschaft, Demokratie oder Demokratisierung, Umsetzung der Menschenrechte. Politik hat direkte ethische Stossrichtung.
– Klingt ziemlich selbstverständlich, oder, Jan?
– So erstmal schon, in der Tat.
– Weil es für uns selbstverständlich ist. Blickt man aber mal über unseren westlichen Tellerrand hinaus, dann bringt es beträchtliche Probleme mit sich. Zum Beispiel fragt sich ja: Was ist denn mit Staaten, die nicht oder noch nicht demokratisch sind? Können sie gar keine Beziehungen zur liberalen Welt unterhalten, gar nicht Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft sein? Und wenn nicht – wie soll dann mit ihnen verfahren werden?
Oder Jan sagt:
– Ah, verstehe. Das ist also das, was wir derzeit haben.
– Zumindest ist es das, was sich der Westen vorstellt oder ursprünglich mal vorgestellt hat, ja.
– Und was ist jetzt der Unterschied zum Realismus?
– Dass der Realismus an all das nicht glaubt. Das heisst, er akzeptiert schon, dass das alles sehr schön wäre, was sich der Liberalismus ausgedacht hat, aber er meint, es funktioniert nicht. Und zwar vor allem deshalb nicht, weil es laut Realismus gar keine dauerhaften rechtlichen Regelungen unter den Staaten geben kann. Laut Realismus herrscht in der internationalen Sphäre Anarchie. Gesetzeslosigkeit. Denn Gesetze, damit sie funktionieren, brauchen eine Regierung, die sie erlässt, und eine Exekutive, die sie durchsetzt. Es gibt aber keine Weltregierung und keine Weltpolizei, und es sieht auch nicht so aus, dass sie in absehbarer Zeit entstehen können. Und deshalb gibt es nur einen Faktor, der Ordnung schafft zwischen den Staaten: Das Gleichgewicht der Mächte. Die Staaten sind eigentlich immer miteinander in Konflikt, und kommen nur deshalb einigermassen miteinander aus, weil sie ihre Interessen gegeneinander ausbalancieren. Und nicht, weil es Regeln gibt, an die sie sich halten. Rechte sind Illusionen. Sagen die Realisten.
– Gemütlich klingt das nicht.
– Vielleicht ist es auf unserer Welt einfach nicht gemütlich.
– Und was ist dann mit den Menschenrechten, zum Beispiel?
Erster Weltkrieg | Woodrow Wilson | 14-Punkte-Plan
Man kann den Moment, an dem der Liberalismus als Doktrin der internationalen Beziehungen die politische Weltbühne betrat, relativ genau identifizieren: die letzten Jahre des Ersten Weltkriegs und die Zeit danach. Auch, wer für diesen Auftritt verantwortlich war, ist klar: die USA.
Als jenseits des Atlantiks gelegener „Inselstaat“ hatten sich die USA während des Krieges zunächst neutral verhalten. Schrittweise wurden sie aber trotzdem in die Auseinandersetzungen hineingezogen. Im Mai 1915 versenkte ein deutsches U-Boot das britische Passagierschiff Lusitania*, dabei kamen auch 128 US-Amerikaner ums Leben. Spätestens als im Januar 1917 ein gegen die USA gerichtetes geheimes Bündnisangebot Deutschlands an Mexiko bekannt wurde*, war klar, dass ein Kriegseintritt der USA bevorstand. Doch in welcher Form sollte er stattfinden?
Viele Stimmen drängten damals darauf, ein Engagement der USA müsse vor allem deren eigenen Interessen dienen, allen voran der frühere Präsident Theodore Roosevelt. Er sagte in Anspielung auf den Aufstieg der USA von einer britischen Kolonie zu einer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht von globaler Bedeutung: „Wir sind zu einer Grossmacht herangewachsen, und müssen uns so verhalten, wie es einem Volk mit derartigen Verantwortlichkeiten geziemt.“
Der Amtsinhaber Woodrow Wilson interpretierte die „Verantwortlichkeiten“ aber anders. Ihm schien ein solcher Wiederaufguss alter europäischer Interessenpolitik nicht angemessen für die Neue Welt, deren Verfassung auf den liberalen Ideen der Freiheit und der Gleichheit fusste. Im Gegenteil, gerade das Machtstreben der einzelnen Staaten Europas hielt er für die Hauptursache der aktuellen Kriegskatastrophe.
Wilson entschied sich für einen dritten Weg. Weder sollte die USA ihren traditionellen Isolationismus fortführen, noch sollte ihr Kriegseintritt der Erweiterung den eigenen Interessen dienen. Ziel des US-Amerikanischen Eingreifens in den Ersten Weltkrieg sollte statt dessen die Verbreitung von Freiheit und Demokratie sein. „Wir stehen am Beginn eines Zeitalters“, sagte er in seiner Kongress-Rede zur Kriegserklärung am 2. April 1917, „in welchem verlangt werden wird, dass die Nationen und deren Regierungen ebenso zur Verantwortung für getanes Unrecht gezogen werden wie die einzelnen Bürger zivilisierter Staaten.“
Der Horror des Weltkriegs könne, so meinte Wilson, nur durch die Einsicht der Staaten in die Notwendigkeit eines freiwilligen friedlichen Zusammenlebens überwunden werden. Voraussetzung dafür war ihre Demokratisierung. Diese Vision schlug sich wenig später auch in Wilsons 14-Punkte-Programm für die Nachkriegsordnung nieder, das unter anderem den Anstoss zur Gründung des Völkerbundes gab (dem die USA letztlich nicht beitraten) – der Vorgängerorganisation der heutigen Vereinten Nationen.
Wilsons Ansatz, in den „war to end all wars“ einzutreten, um die Welt „safe for democracy“ zu machen, wurde zum Vorbild eines beträchtlichen Teils der US-Aussenpolitik bis heute. Auch in Europa gehen aussenpolitische Doktrinen oft auf Wilsons Liberalismus zurück oder sind ihm zumindest ähnlich, so etwa die wertegeleitete Aussenpolitik der deutschen Bundesregierung.
Was die USA betrifft, so vermischte sich der eigentlich anti-egoistisch gedachte Liberalismus aber schnell mit der Vorstellung eines amerikanischen Sonderstatus (US-Exzeptionalismus) sowie denjenigen machtpolitischen Ambitionen, gegen die er ursprünglich einmal gerichtet gewesen war. Daher wird er auch immer wieder zum Gegenstand von Kritik, vor allem vonseiten des Realismus – und nicht zuletzt vonseiten Russlands .
visionär und problematisch
Der Versuch des Liberalismus, die zwischenstaatlichen Verhältnisse auf die Basis von Recht und Demokratie zu stellen und so auf eine in der Weltgeschichte völlig neue Weise in eine friedliche Ordnung zu bringen, war – und ist auch weiterhin – visionär. Aber er bringt auch eine Vielzahl von Problemen mit sich.
Visionär ist der Liberalismus, weil er erstmals moralische Kategorien zu einem relevanten Faktor in der Aussenpolitik macht. Völkerrecht und Menschenrechte sollen global etabliert werden, die Bürger aller Staaten sollen in Freiheit und Gleichheit miteinander leben können. Die einzelnen Nationalstaaten sollen sich von Konkurrenten oder gar Feinden, unter denen das Recht des Stärkeren herrscht, zu gleichwertigen Partnern wandeln, die miteinander kooperieren, um gemeinsame Ziele zu verwirklichen.
Dies klingt auch heute, da die politischen Probleme zunehmend globalen Charakter haben und nicht mehr von einzelnen Staaten allein gelöst werden können, noch zeitgemäss, und man sollte meinen, dass niemand ernsthaft Zweifel an Wert und Sinnhaftigkeit einer solcher Perspektive haben kann.
Und in der Tat kann man die vergangenen einhundert Jahre westlichen Liberalismus als eine beispiellose Erfolgsgeschichte lesen. Kriege zwischen den Staaten der westlichen Welt – Frankreich, Grossbritannien, Deutschland, später den USA –, wie sie das 18., 19., dann vor allem die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrscht haben, scheinen heute weitgehend undenkbar, weil sinnlos. Die Umwandlung autoritärer und totalitaristischer Staaten wie Deutschlands Japan oder später Spanien in pluralistisch-demokratische ist gelungen – nicht zuletzt unter dem Einfluss der USA. Der Lebensstandard in den liberalen Staaten befindet sich auf zuvor niemals erreichten Höhen, globale Probleme sind als solche erkannt und um ihre Lösung wird zumindest gerungen. Es überrascht nicht, dass Staaten und Völker überall auf der Erde danach streben, die liberale westliche Demokratie als politisches Modell zu übernehmen oder in ihren Einflussbereich zu gelangen.
Das wäre die eine Sichtweise. Man kann aber auch eine andere einnehmen. Und aus der heraus kann man sagen: Der Liberalismus ist gescheitert.
Der auf Wilsons Initiative hin entstandene Völkerbund hat sich als wirkungslos herausgestellt und wurde aufgelöst. Seine Nachfolgeorganisation, die UNO, ist ebenfalls ein zahnloses Gebilde, zumindest was die internationale Sicherheitspolitik betrifft.
Auch mit der hochgelobten Friedfertigkeit der Demokratien ist es womöglich nicht weit her: Im Namen der liberalen, demokratischen Weltordnung wurden Kriege geführt, die eindeutig völkerrechtswidrig waren, etwa im Irak, und die das Chaos und die Anarchie, die sie vorgegeben hatten zu bekämpfen, gerade erst selbst beförderten.
Im Rahmen der globalen Wirtschaft saugt der liberale Westen die weniger privilegierten Staaten des Südens aus, oft unter dem Vorwand, ihnen zu helfen. Geht es noch zynischer? Vor den grossen globalpolitischen Herausforderungen, seien sie im Verhältnis in China zu finden, im Nahen Osten oder in Afrika, steht der Liberalismus weitgehend hilflos da.
Und was Russland anbetrifft, kann man sogar zum Schluss kommen, die westliche Liberalisierungspolitik habe einen genau gegenteiligen Effekt gehabt und massgeblich dabei geholfen, das autoritäre Regime des „Putinismus“ überhaupt erst hervorzubringen: Hätte der Westen nicht mit solcher Macht auf die Demokratisierung des post-sowjetischen Staates gedrängt, dabei das Fehlen wichtiger Voraussetzungen und bürgerlicher Traditionen ausser acht lassend, so hätte die Rede von „westlicher Einmischung“ oder von der Notwendigkeit, Russland als Grossmacht wieder „von den Knien zu erheben“, möglicherweise keinen so fruchtbaren Nährgrund gefunden.
– Das macht in der Tat nachdenklich.
– Eben, Jan. Es könnte sein, dass das, was in der Theorie so schlüssig und erstrebenswert erscheint, in der Praxis zu ganz anderen Effekten führt. Die liberale Doktrin hat ja immer so etwas wie einen Erlösungseifer: Sie will die Welt besser machen – jetzt. Aber wenn die Welt sich nicht besser machen lässt? Oder wenn sie dafür noch nicht reif ist? Durchaus möglich, dass der vermeintlich friedliche Weg in die globale Einigkeit, von dem die Liberalen träumen, in Wirklichkeit zu nur noch mehr Chaos führt.
– Ja, wie was das nochmal? Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert?
– In dieser Art, ja. Und sollte das so sein, dann bleibt auch von der moralischen Grundidee des Liberalismus nicht mehr viel übrig. Die würde sich dann quasi in ihr Gegenteil verkehren. Die Realistem jedenfalls haben im Liberalismus mit all seinen ehrenhaften, aber eben auch auch hochfliegenden Plänen schon immer einen in der Praxis nicht umsetzbaren „Idealismus“ oder „Utopismus“ gesehen.
Realismus
Wie das Wort Liberalismus, so ist auch das Wort Realismus alles andere als eindeutig: Man redet von Realismus in der Literatur, in der Kunst, in der Philosophie, im Alltagsleben und so weiter. Immer hat das Realistische dabei etwas zu tun mit einem nüchternen Blick, einem Verzicht auf Illusionen, Fiktionen und Phantasmen – und vielleicht auch: auf Hoffnungen. Aber immer auf eine unterschiedliche Art und Weise.
Der Realismus der internationalen Beziehungen trägt diesen Namen, weil er den Anspruch erhebt, nicht, wie der Liberalismus, von einer anzustrebenden, womöglich aber nie realisierbaren Zukunft auszugehen, sondern von der tatsächlichen, eben: realen Situation. Und in der – so der Realismus – sind Staaten nicht bereit, sich freiwillig selbstgegebenen Regeln zu unterwerfen, sondern sie sind egoistische Akteure, die mit Macht ihre eigenen Interessen verfolgen – Konflikte inbegriffen –
Hier dann zehn Skizzen zum Realismus – thematisch miteinander verzahnt – besonderes Augenmerk auf das Historische (da Realismus aus der politischen Praxis herstammt) – zugleich sein Verhältnis zum Liberalismus hervortreten lassen – dabei Schritt für Schritt wieder zurück zum konkreten Russland-Problem –
1 – 5: Von Sparta bis Versailles
1. Interessen, Macht, Balance of Power
Liberale Politik gibt es seit dem frühen 20. Jahrhundert, realistische Politik wohl, wenn auch zunächst namenlos, schon immer. Aller Wahrscheinlichkeit schon praktizierten sie schon die Frühmenschen-Stämme: Hatten die einen Keulen, die anderen nur ihre Fäuste, so ging es denen mit den Fäusten schlecht – bis auch sie sich Keulen besorgten. Dann kam man wieder halbwegs miteinander aus. Power macht Politik. Balance of power schafft Frieden. So simpel es ist, so realistisch ist es.
Die offizielle Geschichte des Realismus lässt man allerdings meist nicht mit den Höhlenmenschen, sondern mit Thukydides beginnen. Thukydides war Zeitzeuge des Peloponnesischen Krieges, des epochalen Konflikts zwischen Athen und Sparta, der zweieinhalb Jahrzehnte dauerte und das Ende des klassischen Zeitalter Athens einläutete. Der griechische Geschichtsschreiber fragte sich, wie es zum Ausbruch diese Krieges hatte kommen können. Seine Diagnose: Das Machtgefüge zwischen den beiden Stadtstaaten war zunehmend aus dem Gleichgewicht geraten. „Das Anwachsen der Macht Athens“, schreibt er, „machte den Krieg unausweichlich“: Sparta fühlte sich bedroht, fürchtete um seine Sicherheit und rüstete daher zum Krieg. Ein typisches Kriegsszenario à la Realismus.
Weitere Meilensteine in der Formulierung der realistischen Doktrin: Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes. Machiavelli: Diplomat und Politiker der italienischen Renaissance (Auseinandersetzungen zwischen der Republik Florenz, Fürstenfamilien, Papsttum). Streben nach Macht als treibende Kraft der Politik. Der politische Zweck rechtfertigt jedes nur denkbare Mittel, einschliesslich der Ermordung Unschuldiger. Für moralische Überlegungen oder Skrupel kein Platz*.
Hobbes: Hauptwerk Leviathan – „Urzustand“ des Menschen ein „Krieg aller gegen alle“ – Inspirationsquelle für die Annahme der Realisten, auch zwischen den Staaten herrsche Anarchie (Gesetzeslosigkeit) (die im Falle der Staaten auch nicht durch Unterwerfung unter einen absolutistischen Monarchen oder eine Weltregierung beendet werden kann)
Interessant: sowohl im Liberalismus wie im Realismus werden Modelle für Verhältnisse zwischen Menschen auf Verhältnisse zwischen Staaten übertragen: einmal der Locke’sche Gedanke, jeder Mensch sei mit Rechten ausgestattet, einmal der von Hobbes, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf.
2. Sparta und die NATO-Osterweiterung
Der Peloponnesische Krieg und moderne Konflikte wie der Kalte Krieg oder auch die aktuelle Situation zwischen Russland und dem Westen sind kaum miteinander kaum vergleichbar. Aber einige Elemente ähneln sich doch: Es gibt zwei Machtpole mit jeweils unterschiedlichen geographischen Gegebenheiten (die Seemacht Athen, die Landmacht Sparta), es gibt zwei unterschiedliche Regierungssysteme (Athen: Demokratie, Sparta: Oligarchie), es wurde über Jahrzehnte ein prekäres (bei den Griechen: territorial-militärisches) Gleichgewicht aufrecht erhalten.
Vor allem aber ist es Thukydides‘ Analyse der Gründe für das Ausbrechen des Krieges, die an heutige Dynamiken und Argumentationen erinnert: „Das Anwachsen der Macht Athens machte den Krieg unausweichlich“, schrieb er. Sparta musste tätig werden, weil es in seiner Existenz bedroht war oder eine solche Bedrohung zumindest vermutete oder verspürte. Die Parallele zu einem zentralen Argument der russischen Seite im derzeitigen Konflikt ist offensichtlich: Russland sei durch die NATO-Osterweiterung bedrängt worden, habe dem Einhalt gebieten müssen, und darin liege der Ursprung des Konflikts (und nicht, zum Beispiel, in den Ereignissen auf der Krim).
Damals wie heute: Der Konflikt bricht aus, wenn das System aus den Fugen gerät. Sparta musste die wachsenden Macht Athens „gegenbalancieren“ (Terminologie des Realismus: to balance). Die Aggression dessen, der kräftemässig ins Hintertreffen gerät, erscheint als von aussen induziert, als eine Re-Aktion, letztlich als eine vorauseilende Selbstverteidigung. Das ist ganz und gar im Geist des Realismus gedacht.
Ein liberales Denken würde – falls es überhaupt in gleicher Weise eine Sicherheitsbedrohung diagnostizieren würde – an Gesetz und Gerechtigkeit appellieren, um den sich anbahnenden Konflikt zu entschärfen. Ob es damit Erfolg hätte? (Auch für ein solches „idealistisches“ Verhalten hat Thukydides einen Modellfall beschrieben – und der geht sehr schief.)
3. stabile Friedensordnungen
Realisten sagen, ihre Doktrin eigene sich nicht nur dafür, die Ursachen von Konflikten und von Kriegen zu verstehen, sondern sie tauge auch, um nach Beendigung einer Auseinandersetzen wieder Frieden zu schaffen. Beispiele: der Westfälische Friede* (im Anschluss an der Dreissigjährigen Krieg) und vor allem der Wiener Kongress* (ordnete das nachnapoleonische Europa zu einem neuen Konzert der Mächte).
In beiden Fällen beruhte die Nachkriegsordnung auf einer fein austarierten Balance der Kräfte, und in beiden Fällen war sie vergleichsweise stabil.
Bedenkenswert ist vor allem, dass der Wiener Kongress dem Schuldigen der napoleonischen Kriege, nämlich Frankreich, eine relativ vorteilhafte Startposition in die Nachkriegsordnung einräumte. Man verzichtete zum Beispiel auf extreme Reparationsforderungen. Anstelle eines bis in letzte „gerechten“ Friedens, bei dem jedes erlittene Unrecht bis ins Letzte abgegolten werden soll oder gar eines „Triumphfriedens“, bei dem einem der Unterlegenen die gesamte Last der Verantwortlichkeiten aufgebürdet wird, fand man zu etwas, dass man vielleicht eher einen „realistischen Weisheitsfrieden“ nennen könnte – nämlich einen Kompromiss, der den Besiegten mit Nachsicht behandelte, um das Entstehen nachbarschaftlicher Verhältnisse in der Zukunft zu erleichtern.
Eine andere grosse Nachkriegsordnung, nämlich diejenige von Versailles, die den Ersten Weltkrieg beendete, brachte gerade in dieser Hinsicht grosse Probleme mit sich (-> Punkt 4). Auch nach dem Ende des Kalten Krieges ist kein Weisheitsfrieden entstanden, und konnte es vielleicht auch gar nicht, was noch heute im Russland-Problem überall spürbar ist (-> Teil II).
4. Versailles und der Völkerbund
Der Friedensvertrag von Versailles wurde nach Abschluss der Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges von den Siegermächten Großbritannien, Frankreich, Italien und USA ausgehandelt. Im Zuge der gleichen Verhandlung wurde auch der Völkerbund gegründet, die Vorgänger-Organisation der heutigen UNO, und zwar als ein Teil von Woodrow Wilsons 14-Punkte-Plan (-> Abschnitt über den Liberalismus).
Der Völkerbund war von Anfang an mit vielen Problemen belastet. Etwa traten die USA, obwohl sie Haupt-Initiatoren waren, ihm überhaupt nicht bei (der US-Senat verweigerte die Ratifizierung des Versailler Vertrages); die Sowjetunion wurde erst 1934 Mitglied und bereits 1939 aufgrund des Winterkriegs gegen Finnland* wieder ausgeschlossen.
Vor allem aber erwies sich der Völkerbund, der immerhin als Vorstufe zu einer Weltregierung gedachte war, als weitgehend macht- und wirkungslos. Er besass keine eigenen Truppen, und zu einer gemeinsamen Entsendung ihrer nationalen Streitkräfte konnten sich die Mitgliedsstaaten kaum je durchringen. Weder beim japanischen Angriff auf China (1931)* noch beim Eroberungskrieg Italiens gegen Abessinien (1935)* ergriff der Völkerbund wirkungsvolle Massnahmen. Erst recht konnte er gegen Deutschland nichts ausrichten, das ab 1933 begann, die Abkommen des Versailler Vertrags zu missachten und mit kriegerischen Mitteln rückgängig zu machen.
Das Scheitern des Völkerbundes, des liberalen Projekts par excellence, war der Hauptanlass für die Wiederbelebung des Realismus in Form einer Theorie-Doktrin der Moderne, die an Hobbes, Machiavelli und Thukydides anknüpfte und die Begriffe Macht und Interesse wieder in den Mittelpunkt des internationalen politischen Denkens stellte (-> Punkt 6, Punkt 7).
5. Versailles und Deutschland
Deutschland und die Versailler Verträge – dieses Thema illustriert wie kaum ein anderes das schwierige Verhältnis, in dem Liberalismus und Realismus zueinander stehen.
Bekanntlich wurde Deutschland in Versailles die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg zugesprochen, was mit massiven Reparationsforderungen und Gebietsabtretungen verbunden war.
Unabhängig von der Frage, ob dieser Schuldspruch in dieser Form berechtigt war, bargen die Versailler Beschlüsse einen prinzipiellen Widerspruch in sich: Einerseits sollten sie Wilsons liberale Vorstellungen von der Verbreitung der Demokratie verwirklichen, andererseits ging es den Siegermächten – vor allem Frankreich – darum, Deutschland wirkungsvoll und dauerhaft zu schwächen. Deutschland war aber zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr das monarchistische Deutsche Reich, das Europa in den Krieg geführt hatte, sondern die junge, politisch instabile Weimarer Republik*. Deutschland zu schwächen bedeutete also zugleich, seine demokratische Entwicklung zu behindern und in Gefahr zu bringen – das genaue Gegenteil der angestrebten Verbreitung der Demokratie in Europa.
Dass dieser Selbstwiderspruch in den Versailler Beschlüssen die Chancen eines dauerhaften Friedens bedrohte, wurde bereits während der Verhandlung von manchen Teilnehmern beklagt. So trat etwa der berühmte britische Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes* unter Protest von seinem Amt in der britischen Delegation zurück. Ähnlich bewertete die Situation Edward Hallett Carr*, ein britischer Diplomat, Politologe und Historiker mit dem Fachgebiet Russische Revolutionen, der kurz darauf zu einem der Begründer des modernen politischen Realismus wurde. Carr schreibt in seiner Autobiografie: „Ich war empört von der Unnachgiebigkeit der Franzosen und von unserer [der Briten] unfairen Behandlung der Deutschen, die wir hintergangen haben, was [Wilsons] Vierzehn-Punkte-Plan angeht, und jeder kleinlichen Erniedrigung unterworfen.“
Wie man sich leicht vorstellen kann, trafen die Versailler Beschlüsse insbesondere in Deutschland auf Ablehnung, ja Entsetzen. Historiker sind sich heute weitgehend einig, dass das Wort vom ungerechten „Versailler Diktat“ damals von allen massgeblichen politischen Strömungen und Parteien getragen wurde. Es war Konsens von den Sozialisten der SPD bis hin zu den Bürgerlichen der Zentrums-Partei, dass die Forderungen der Friedenskonferenz unerfüllbar waren und man Mittel und Wege finden müsse, sich aus den „Fesseln von Versailles“ zu befreien.
Gustav Stresemann verfolgte dazu als liberaler Aussenminister eine Verständigungspolitik, die in kleinen Schritt zu einer Wiedereinbindung Deutschland in die europäische Staatenkonstellation führen sollte. Mit dem Vertrag von Locarno (1925)* und der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (1926)* errang er einige Erfolge.
Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 begann jedoch der Zerfall der Weimarer Republik. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten das Diktum von „Versailler Schandfrieden“ und machten es gemeinsam mit der Dolchstosslegende* zur Grundlage ihres politischen Aufstiegs. Die Besetzung des Rheinlandes (1936), nach aussen hin als eine Wiederherstellung der von Versailles verletzten Gerechtigkeit dargestellt, diente bereits als Testfall für ihre aggressive Revisions- und Expansionspolitik, die unmittelbar in den zweiten Weltkrieg führte*.
6 – 10: Vom Zweiten Weltkrieg bis heute
6. Diagnosen der Zwischenkriegszeit
Versucht man, diese hochkomplexen historischen Ereigniszusammenhänge der Zwischenkriegszeit unter dem Gesichtspunkt von Realismus und Liberalismus zu betrachten, so kann man ungefähr zu folgendem Ergebnis kommen.
In den Versailler Beschlüssen vermischten sich, wie wir gesehen haben, zwei miteinander kaum vereinbare Komponenten.
Zum einen ging es darum, eine neue Epoche der internationalen Beziehungen anbrechen zu lassen. Sie sollte nicht länger von Konflikten und Kriegen geprägt sein, sondern von freiwilliger Kooperation der Staaten, gesicherten rechtlichen Verhältnissen und Demokratie. Dies ist die liberale Komponente von Versailles.
Auf der anderen Seite folgten die kontinentalen Siegermächte, vor allem Frankreich, ihren eigenen Interessen, indem sie Deutschland so schwächten, dass von ihm – wie sie meinten – keine Aggressionen von ihm mehr zu erwarten wären. Dies ist die Komponente eines gewissermassen „halbgaren“, nicht zu Ende gedachten Realismus.
„Halbgar“ ist dieser Realismus, weil er zwar die eigenen, nicht aber die fremden Interessen in Anschlag brachte. Er vernachlässigte die Interessen der im Krieg Unterlegenen – in diesem Fall diejenigen Deutschlands. Dies war anders im Fall des „realistischen Modellfriedens“ beim Wiener Kongress: Dort wurde dem nach-napoleonischen Frankreich eine vergleichsweise starke Nachkriegsposition eingeräumt (-> Punkt 3, „Stabile Friedensordnungen“).
Versailles hat keine stabile Ordnung in Europa schaffen können (-> Punkt 5, „Versailles und Deutschland“). Warum? Welche der beiden Komponenten war verantwortlich für das Scheitern der Versailler Ordnung? Die unvollkommen umgesetzte klassische Staatskunst, also der „halbe“ Realismus, der nicht vorausschauend war in seinem Kalkül, wie sich ein Kräftegleichgewicht weiter würde entwickeln können? Oder der neu hinzugekommene, gleichsam revolutionäre Liberalismus, der auf Ideale und Visionen vertraut hatte, die sich in der politischen Wirklichkeit nicht umsetzen liessen?
Die Begründer des modernen Realismus – neben Edward Carr vor allem Hans Morgenthau* (nicht zu verwechseln mit Henry Morgenthau*) und Reinhold Niebuhr* – kamen zu diesem, dem zweiten, Ergebnis. Sie sagten: der Liberalismus hat versagt. Er war nicht dazu in der Lage, das System der europäischen Nationalstaaten auf eine neue, auf garantierten Rechten und freiwilliger Kooperation beruhende Grundlage zu stellen. Schlimmer noch: Dieser Versuch hat sich als eine gefährliche Illusion erwiesen, denn die von ihm angestrebte Ordnung ist innerhalb weniger Jahre implodiert. Daher sollte man derartige Visionen fallenlassen und anerkennen, dass eine dauerhafte Ordnung einzig und allen durch ein Ausbalancieren von Interessen erreichbar ist – diejenigen der Verlierer eingeschlossen.
(Dies klingt überzeugend, wir vergessen aber nicht, dass auch der Realismus von Versailles nicht zuendegedacht war und dass man aufgrund einer ersten missglückten Bewährungsprobe für den Liberalismus nicht unbedingt das Kind mit dem Bade ausschütten muss.)
7. Realismus-Elemente
Im modernen Realismus – wir betonen das modern, weil die Doktrin eigentlich erst in der Zwischenkriegszeit ihre heutige Bezeichnung bekommen hat und vorher gewissermassen namenlos existierte (-> Punkt 1) – geht es immer um Interessen: Die Eigeninteressen der Staaten sind das A und O der internationalen Beziehungen, ihre eigentlichen und durch nichts anderes zu ersetzenden Triebkräfte. Daraus resultiert der Grundsatz, nur ein Gleichgewicht der Kräfte können Ordnung und Frieden sichern. Der Realismus kennt aber noch weitere grundlegende Prinzipien oder Axiome, die teils bereits angeklungen sind, teils später im Text noch wichtig werden:
- Der Realismus nimmt – im diametralen Gegensatz zum Liberalismus – an, dass die internationale Sphäre generell nicht durch Normen oder Gesetze zu regeln ist: Er denkt sie als prinzipiell gesetzeslos, als anarchisch (-> Punkt 1, Hobbes etc.). Oberhalb der Staaten gibt es keine weitere wirkungsvolle politische Instanz, die Staaten müssen in einen Prozess der Selbstorganisation treten, es kann weder eine Weltregierung noch eine „Welt-Exekutive“ oder „Weltregierung“ geben (auch nicht in Form der UNO).
- Wie die Staaten im Inneren verfasst sind, spielt für den Realismus (ebenfalls im diametralen Gegensatz zum Liberalismus) keine Rolle*. Ob Demokratie oder Diktatur: in der Interessen-Dynamik der internationalen Beziehungen kommt dies auf das Gleiche heraus. Die Staaten werden daher generell als „black boxes“ betrachtet. (Entscheidend für das Russland-Problem: Ist es „egal“ für die aussenpolitischen Beziehungen, ob der Kreml autoritär (oder gar moralisch „niederträchtig“ regiert oder nicht? -> Teil II).
- Ebenso werden Fragen der Ethik oder der Werte im Realismus ausgeblendet: es gibt keine direkte ethische Stossrichtung wie im Liberalismus (-> Abschnitt Liberalismus, „Prinzipien“). Ein überzeugter Realist würde sagen, dass zum Beispiel eine „wertegeleitete Ausenpolitik“ mehr Unheil schafft als sie Nutzen bringt. „Gute Vorsätze pflastern den Weg zur Hölle“, wie es das Sprichwort auf den Punkt bringt.
- Autoren wie E. H. Carr (in seinem Buch The Twenty Years‘ Crisis, 1939) betrachten den liberalen Universalismus, der auf eine globale Ausbreitung der Demokratie drängt, als ein verkapptes Streben nach westlicher Hegemonie: Hinter dem Drängen auf Umsetzung von Menschen- und Völkerrecht stehe eigentlich das westliche Eigeninteresse auf Ausweitung seiner Einflusssphäre. Wer die Macht hat, der bestimmt auch, was Recht und Unrecht ist („might makes right“*). Dieser Punkt ist wichtig innerhalb des aktuellen Russland-Problems: Wollte der Westen wirklich nur das Beste? (Natürlich nicht. Aber auch nicht nur das „Schlechte“.)
8. Realismus-Probleme
Was den Liberalismus angeht, so bringt er, wie wir gesehen hatten, einige Schwierigkeiten mit sich (-> „visionär und problematisch“). Beim Realismus sieht das nicht viel anders aus.
Ein Vorwurf, der dem Realismus immer wieder gemacht wird, ist der, er sei unmoralisch – oder ihm sei die Moral zumindest egal (-> Punkt 7, Ethik). Einerseits stimmt das: Beim Realismus geht es um Macht- und Interessenpolitik, nicht um gute Vorsätze und hehre Ziele. Andererseits nehmen auch bei den Autoren des Realismus Überlegungen zur Moral eine wichtige Stelle ein, allerdings auf eine indirekte Weise, die zunächst paradox anmuten kann: Sie meinen, Moral müsse aus der internationalen Politik herausgehalten werden, weil nur der Verzicht auf moralisch geleitete Aussenpolitik den Frieden sichern und damit ein höheres moralisches Ziel erreichen kann.
Vielleicht haben sie recht damit – es ist schwer, einen geschichtlichen Ablauf, der sich noch in Entwicklung befindet, von innen heraus, als Zeitgenosse, zu beurteilen (-> Teil IV).
Dass allerdings auch die Einstellung der „indirekten Moralität“ Fallen bereithält, zeigt sich schnell. Zum Beispiel an der Haltung des Realisten Carr zu Hitlerdeutschland. Ausgehend von seiner These der ungerechten Behandlung Deutschlands in Versailles war Carr in den frühen Jahren von Hitlers Regierungszeit ein überzeugter Verfechter der appeasement-Politik – er hielt es für richtig, die Nationalsozialisten ihren Landhunger im Osten stillen zu lassen und etwa nichts gegen den Einmarsch in Polen zu unternehmen, da dadurch das verlorengegangene Gleichgewicht wiederhergestellt und dem Frieden Vorschub geleistet werde. Nach dem Krieg hat er sich selbst in dieser Sache der Blindheit bezichtigt.
An der Einstellung Carrs, der gewissermassen bereit war, Polen auf dem Altar des europäischen Friedens zu opfern, zeigt sich ein anderes Problem des Realismus: Einflusszonen werden von Grossmächten bestimmt, kleineren oder schwächeren Staaten bleibt nichts anderes übrig, als sich unterzuordnen. Sie haben den Machtmonopolen der Grossmächte nichts entgegenzusetzen, sie werden aus eigenem Interesse zu Vasallen (in der realistischen Theorie ist von bandwagoning die Rede, „Mitläufertum“, wenn sie selbst kein balancing betreiben könne, also einer auf sie wirkenden Macht nichts entgegenzusetzen haben). Zu welchen Problemen das führt, sieht man derzeit an der Ukraine (-> Teil II, „Kleinmächtedilemma“).
Ein anderes, generelles Problem des Realismus hängt mit den Fragen der Globalisierung zusammen. Wenn es keine koordinierenden Instanz wie die UNO gibt, beziehungsweise wenn deren Bemühungen wirkungslos sind und letztlich doch jeder staatliche Akteur nur nach seinem Eigeninteresse handelt, wie sollen dann globale Fragen wie Klimawandel oder Migration bewältigt werden, oder globale Wirtschaftsprobleme? Dies kann man noch in einem grösseren Zusammenhang sehen, dem der Frage der Weiterentwicklung von Geschichte überhaupt oder kurz: des Spannungsfeld von Statik vs. Fortschritt. Wo im Liberalismus die Nicht-Realisierbarkeit der angestrebten Transformationen droht, da bringt der Realismus das Problem mit sich, dass sich überspitzt gesagt, in einer durch und durch „realistischen“ Welt überhaupt niemals etwas ändert. Das kann ja auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
9. Theorien-Temperamente
Realismus und Liberalismus stehen einander gegenüber wie, salopp gesagt, Hund und Katz, Feuer und Wasser oder was es sonst noch an ähnlichen Sinnbildern geben mag. Es ist kaum ein common ground zwischen ihnen zu erkennen. Ihre Denkweisen, ja ihre Weltwahrnehmungen unterscheiden sich so sehr voneinander, dass man sich an grundlegende, niemals völlig auflösbare Widersprüche zwischen philosophischen Schulen erinnert fühlt, wie zwischen der des Aristotelismus und des Platonismus.
Man kann hier in der Tat von zwei ganz verschiedenen, miteinander unvereinbaren theoretischen Mentalitäten sprechen, die hinter den jeweiligen Doktrinen stehen, oder von zwei verschiedenen Theorie-Temperamenten. Die offenbaren sich auch in den gänzlich miteinander unverträglichen Menschenbildern: Der Liberalismus ist grundsätzlich eine optimistische Lehre, für ihn ist schon der Mensch in erster Linie gut, zur Einsicht und zum Miteinander fähig. Die Realisten hingegen gehen davon aus, er sei ein krummes Holz, bei dem sich Übles und Edles ineinanderschlingen, und daher sollte man eher mit dem Schlimmsten rechnen …
(Haben diese Temperamente etwas mit dem Russland-Problem zu tun? Ja (-> „Zwei Schlangen …“, aber auch Teil II). Aber man sollte sie sowieso im Sinn haben, sie kommen in vielen aktuellen politischen Debatten zum Tragen (-> „Gutmenschen“ vs. – ja versus wen eigentlich?)
10. die Aktualität
Machen wir hier einen Schnitt. Wir sind ja auch schon bei zehn Punkten angekommen, wie angekündigt.
Wichtig ist, dass die Grundzüge beider Theorien einmal angeklungen sind – einschliesslich des extremen Spannungs- und Gegensatzverhältnisses, in dem sie zueinander stehen. Vollständigkeit kann es hier nicht geben. Einen Überblick über Liberalismus und Realismus als Paradigmen der internationalen Beziehungen, aufgeschlüsselt nach 13 Punkten oder Theorie-Dimensionen, liefert noch einmal die Tabelle in Anhang A.
In einer solchen groben Skizze, wie wir sie hier versucht haben, fehlt vieles, naturgemäss. Zum Beispiel fehlt ein Blick auf den jüngere Geschichte. Hat sich der Liberalismus nach dem zweiten Weltkrieg ebenso schlecht geschlagen wie nach dem ersten? Ist die UNO ein grösserer Erfolg als der Völkerbund? Sind es die Institutionen von Bretton Woods*? Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte? Gibt es mittelfristig einen Trend zur Demokratisierung, zur Institutionalisierung, zu einem Konsens über internationale Normen? Oder haben diese sich, im Gegenteil, zunehmend diskreditiert, mit dem Krieg in Afghanistan, dem Irak-Krieg, der Situation in Syrien, im Osten der Ukraine? Befinden wir uns derzeit in einer Entwicklung, die zu einer einer Vergesellschaftung der Staaten führt, oder sehen wir im Gegenteil einer „Rückkehr des Dschungels“* entgegen, wie manche meinen? Und welche Konsequenzen ziehen wir jeweils daraus?
Eine Antwort auf diese Fragen werden wir hier nicht versuchen. Sowieso verhandeln wir sie weiter in den Teilen II und IV dieser Textes. Allerdings auch dann nicht auf eine Art und Weise, die sie zu einer Lösung führen würde, sondern so, dass die politischen Dynamiken und geistigen Spannungen, die sich aus ihnen ergeben, nachvollziehbar und erlebbar werden.
Zwei Schlangen, die einander nach den Schwänzen haschen
Nun sind wir dort angelangt, wo wir wieder ganz auf unser eigentliches Thema einschwenken können: Russland und den Westen. Natürlich, auch während der Diskussion von Liberalismus und Realismus sind immer wieder die Beziehungen zum Russland-Problem in Erscheinung getreten. Gehen wir die Sache aber noch einmal frontal an und fragen rundheraus: Was hat der prinzipielle Widerstreit von Realismus und Liberalismus mit Russland zu tun?
Diese Frage hat einen beträchtlichen Umfang, und deshalb teilen wir sie in in zwei kleinere auf: eine erste danach, welche Rolle Liberalismus und Realismus im deutschen Diskurs über Russland spielen und eine zweite zum eigentlichen politischen Konflikt zwischen Russland und dem Westen.
Diskurs
Wenn man auf die Diskussion hier bei uns in Deutschland schaut, dann kann man grob, als eine Daumenregel, sagen: Diskursteilnehmer, die vom Liberalismus kommen, sind eher „gegen Russland“, diejenigen, die dem Realismus anhängen, „für Russland“ (beziehungsweise gegen oder für den Kreml und sein derzeitiges politisches System). So spiegelte sich die Situation auch in meinem Traum-Comic wieder:
Der Grund dafür: Liberale und Realisten legen grundsätzlich unterschiedliche Massstäbe an und sie setzen unterschiedliche Prioritäten.
Liberale beurteilen die Situation vor allem danach, in wie weit das Handeln der entsprechenden Akteure auf Menschenrechte, Völkerrecht und Demokratie gerichtet ist und darauf, den Aufbau einer entsprechenden internationalen Staatengemeinschaft voranzubringen.
Bei diesen Punkten sieht die Bilanz für Russland bekanntermassen nicht gut aus. So läuft zum Beispiel die Kombination einer hybriden, oligarchisch dominierten Scheindemokratie mit einer oft ans Zynische grenzenden, „taktischen“ oder gar „schurkigen“ Rücksichtslosigkeit, die für das heutige Russland typisch ist, den liberalen Idealen bereits vollkommen entgegen. Insofern wird ein Liberaler immer nach Mitteln und Wegen suchen, die Kreml-Regierung zu mehr Demokratie zu bewegen oder überhaupt auf ihre Ersetzung durch eine nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach demokratische Regierung hinzuarbeiten.
Was der Liberale dabei fast zwangsläufig aus dem Blick verliert, oder worauf er zumindest seinen Blick weniger intensiv richtet, ist zum einen die Frage der Machbarkeit, zum anderen die der Wechselwirkung zwischen jeweiligen staatlichen Akteuren.
Denn es genügt ja nicht, salopp gesagt, die russische Regierung schlecht zu finden. Man kommt um die Frage nicht herum, was daraus in der Praxis folgt. Russland lässt sich nicht zu seinem demokratischen Glück zwingen, Putin können wir nicht absetzen, und was es wirklich bringt, die russische Opposition zu unterstützen (sofern das in der derzeitigen Lage überhaupt noch möglich ist), steht in den Sternen. Vielleicht das Gegenteil des Gewollten: zivilgesellschaftliche Einflussnahme wird oft genug als Einmischung in die innerstaatlichen Angelegenheit verstanden und führt dann leicht zu einem Wagenburg-Effekt, der von der Regierung wiederum zu ihrer eigenen Stabilisierung genutzt werden kann.
Und ebenso drängt sich im Liberalismus die Denkfigur auf, es habe dem Kreml egal zu sein, wenn Länder wie Georgien oder die Ukraine sich – eventuell mit ein wenig demokratisierender Unterstützung – westlichen Wirtschaftsbündnissen oder gar Militärbündnissen zuwenden. In der Tat sollte dies nach liberalen Spielregeln problemlos möglich sein – aber erstens sind dies nicht die Regeln, nach denen Russland spielt oder jedenfalls spielen möchte, und zweitens ist die Frage berechtigt, wie weit denn der Westen selbst diese Regeln beherzigt: Zumindest die USA haben Fremdeinflüsse in ihrem „Hinterhof“ noch nie widerspruchslos geduldet.
Gerade auf diese Punkte, die bei den Liberalen allzu leicht zu blinden Flecken werden, haben nun aber die Realisten ein besonders scharfes Auge.
Wenn ein Realist sich im Russland-Diskurs positionieren soll, dann schaut er zunächst einmal auf das Spiel der Machtgleichgewichte. Ob Russland zum jetzigen Zeitpunkt ein wenig mehr oder ein wenig weniger demokratisch ist, spielt für ihn keine grosse Rolle.
Denn erst einmal blendet zumindest der klassische Realismus die innere Verfasstheit der Staaten, die als internationale Akteure auftreten, sowieso aus.
Dann aber auch denkt der Realist grundsätzlich eher in historischen Entwicklungslinien als der Liberale: Er leitet seine politischen Urteile eher aus der konkreten Vergangenheit ab, weniger aus abstrakten Prinzipien oder aus einer möglicherweise zu erreichenden Zukunft. Und so ist es für den Realisten klar, dass – nach einer 70-jährigen Phase der Sowjetdiktatur, nach einer Vorgeschichte, die sich in nichts mit der an schmerzhaften politischen Errungenschaften reichen des westlichen Europas vergleichen lässt – Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, starke Institutionen und eine bürgerliche politische Kultur sich nicht von heute auf morgen implementieren lassen.
Wir müssen mit den Missständen erst einmal leben und das beste aus ihnen machen, würde der Realist sagen, und: Kommt Zeit, kommt (hoffentlich) Rat.
Und in dieser Zeit würde er eben darüber wachen wollen, dass die Interessen aller Staaten, auch der nichtdemokratischen, geachtet und in die Kalküle des internationalen Handelns mit eingepreist werden. Dazu gehört – für den Realisten – immer auch, Überlegungen anzustellen, wie spezifische Handlungen, die einen Einfluss auf die internationale Dynamik haben, von Gegenüber (oder: vom Gegner) möglicherweise wahrgenommen, wie sie vom ihm empfunden und interpretiert werden.
Wir erinnern uns an Thukydides: Sparta fühlte sich von Athen bedroht. Solche Gefühle vorwegzuahnen und sie in die Entscheidungsfindung einfliessen zu lassen, gehört zur realistischen Staatskunst dazu. Und diese hätte dann vermutlich nicht auf eine Erweiterung des westlichen Militärbündnisses nach Osten hingearbeitet. Und wo dies dennoch geschehen ist, da würde sie zumindest Verständnis aufbringen für die russische Empörung, vielleicht auch dafür, dass der Kreml nach Gegenmassnahmen sucht und sie auch umsetzt, selbst wenn sie in der internationalen Arena unpopulär sein sollten.
Und aus all diesen Gründen ist der Realist, seinen politischen Denkfiguren wie auch seinem politisch-denkerischen Temperament nach, wenn er zum Beispiel von Deutschland aus die Situation zwischen Russland und dem Westen zu beurteilen hat, mit einiger Wahrscheinlichkeit eher auf der Seite des Kreml zu finden.
Aber natürlich hat auch er dabei etwas ausser Acht gelassen. Nämlich, dass in Russland Menschen ins Gefängnis kommen, weil sie ein Like an der falschen Stelle gesetzt haben, dass Russland Staatsbürger anderer Länder, wie den ukrainischen Regisseur Oleg Senzow, als Geiseln nimmt, Oppositionelle durch gezielte Produktion von Kompromat demontiert, unliebige Personen mit Giftanschlägen aus dem Weg räumt, im Inland wie im Ausland, sich nicht um das Budapester Memoranden schert, das der Ukraine im Tausch gegen ihre Atomwaffen territoriale Unversehrtheit zugesichert hat und vieles, vieles mehr.
Ja, wie sieht es aus mit der Beachtung der Interessen aller Staaten, die der Realist predigt? Kleinere Mächte wie die Ukraine können sich nur grösseren unterordnen (-> Punkt 8, Realismus-Probleme, bandwagoning). Aber wenn ihr Eigeninteresse nun gegen eine solche Unterordnung sprechen sollte?
Wie auch immer man es dreht und wendet: Man kommt aus dem Hin und Her der Unvollständigkeiten nicht heraus. Was der Liberalismus erfasst, das bekommt der Realismus nicht zu greifen; was der Realismus einberechnet, das geht dem Liberalismus durch die Lappen. Die Theorien sind zueinander komplementär, aber sie ergänzen sich nicht zu einem Ganzen. Und weder die eine noch die andere Doktrin vermag Handlungsrezepte aufzuzeigen, die aus dem Problem zwischen Russland und dem Westen herausführen, ohne dabei neue unlösbare Schwierigkeiten zu erschaffen.
Es kommt ein Bild in den Sinn: Das jener Schlange, die sich in den Schwanz beisst, des Ouroboros der ägyptischen und anderer antiker Kulturen. Nur dass es hier nicht eine einzige Schlange ist, sondern ihrer gleich zwei, und diese haschen nur mit ihren aufgerissenen Mäulern nach den jeweils anderes Schwänzen, ohne sie zu erreichen, ohne dass sich der Kreis zu einem geschlossenen Weltbild rundet.
Schaut man sich das so an, so stellen sich natürlich einige Fragen. Etwa: Gibt es ausser Liberalismus und Realismus nicht noch etwas anders? Einen dritten Weg, eine dritte Theorie oder Doktrin? Die diese beiden irgendwie zusammenbringen würde, in Art einer Synthese? Und existieren Liberalismus und Realismus heute überhaupt noch in dieser einfachen, rohen Form, die immerhin schon fast einhundert Jahre alt ist? Haben sich die beiden Schulen nicht weiterentwickelt? Und wenn, wohin hat die Entwicklung dann geführt? Stehen sich die beiden Schulen immer noch so unvereinbar gegenüber?
In Anhang B zu diesem Text gehe ich genauer auf diese Fragen ein. Kurze Zusammenfassung: Ja, die Theorien haben sich weiterentwickelt. Nein, sie haben sich nicht angenähert, jedenfalls nicht wesentlich: Sie sind in ihrem Kern so grundverschieden (und in ihrem Temperament ebenfalls), dass sie wohl auf immer und ewig zu zwei unterschiedlichen intellektuellen Welten gehören werden. Und einen dritten Weg – es gibt ihn, und es gibt ihn nicht. Das soll heissen: Es könnte ihn eventuell geben – in gewissem Masse. Aber er spielt weder im politischen Denken noch in der politischen Praxis eine wesentliche Rolle. Leider. (Für Insider: Ich denke weniger an den Konstruktivismus*, der einem hier natürlich in den Sinn kommt, als an die Englische Schule*.)
unterschwellig, unsichtbar
In einer der Diskussionen mit Jan vertrat ich die These, dass viele, die im Russland-Problem eine Position auf deiner einen oder der anderen Seite der „Kluft“ einnehmen, sich überhaupt nicht der Rolle bewusst sind, die Liberalismus und Realismus dabei spielen. Dies erscheint mir weiterhin gültig. Und es hilft, die Tücken des deutschen Russland-Diskurses zu verstehen.
Man kann ja immer wieder beobachten, dass Sachdiskussionen geführt werden, von denen sich nach allerkürzester Zeit herausstellt, dass sie zu nichts, aber auch zu überhaupt nichts führen. Da hat man sich in den Haaren: Gab es nun eine Absprache zwischen Kohl und Gorbatschow, dass die NATO nicht nach Osten erweitert wird? Hat nun der Westen beim Kiewer Majdan seine Hand im Spiel gehabt? Wirken die Sanktionen dem Autoritarismus der Kreml-Führung entgegen oder stärken sie sie?
Und nach ein paar Minuten hat sich der Tonfall ins Aggressive gewendet, der Moderator muss eingreifen, wenn nicht vorher schon einer der Diskutanten aufgesprungen ist und den Saal verlassen hat, dabei den Stuhl umstossend, auf dem er oder sie gerade eben noch sass.
Und anders kann es eigentlich auch gar nicht sein. Weil sich der Streit in Wirklichkeit mindestens ebenso an den Prämissen der jeweiligen Deutungen entzündet wie an den Sachfragen selbst. Aber von den Prämissen redet man nicht.
Was auch kein Wunder ist. Denn diese Prämissen sind ja, wie wir oben gesehen oder doch zumindest vermutet haben, nicht nur Formen des nüchternen und rationalen Denkens, die man relativ leicht erkennen und beim Namen nennen könnte.
Sie sind auch nicht im eigentlichen Sinne Ideologien. Wären es welche, dann stände das als Vorwurf längst im Raum. Aber hat man das schon einmal gehört, dass die Teilnehmer einer Diskussion einander vorwerfen: „Sie sind ja total liberal indoktriniert“ oder „Sie sind ja völlig realistisch verblendet“?
Der Dissens ist komplexer, und er geht tiefer. Liberalismus und Realismus sind umfassende Verstehensweisen des Politischen, fast möchte man sagen: „der Welt“, die aus der Geschichte, der Geistesgeschichte ebenso wie der politischen Geschichte, hervorwachsen, die geistige, ja seelische Biotope bilden (denken wir an ihre gänzlich unterschiedlichen „Theorie-Temperamente“, -> Punkt 9 bei „Realismus“), in denen man sich meist eher bereits vorfindet, als dass man sie bewusst wählen würde.
Am ehesten würde für sie vielleicht noch der Ausdruck mindset passen. Mindsets entziehen sich dem einfachen, dem schnellen Zugriff. Sie sind zu umfassend, zu allgemein und zu amorph, als dass man mit dem Finger auf sie zeigen könnte. Und gerade das macht sie so wirkungsvoll. Sie haben uns gewissermassen unterschwellig, unsichtbar im Griff. Und können, weil wir ihr Dasein gar nicht wirklichen spüren, umso grösseren Einfluss darauf nehmen, was in unseren Köpfen geschieht.
Liberalismus, Realismus: sie sind die Elefanten, wie man so sagt, in unserem Russland-Raum. Und selbst diejenigen, die selbst auf ihren starken Nacken reiten, haben sie oft niemals gesehen.
Nein, kein Bild von unsichtbaren Elefanten hier.
Konflikt
Aber Liberalismus und Realismus spielen nicht nur eine wichtige Rolle im Diskurs über den Russland-Konflikt, sondern auch in diesem Konflikt selbst. Denn auch dessen politische Akteure lassen sich der einen oder der anderen Doktrin, dem einen oder dem anderen mindset zuordnen.
Zumindest grob. Sehr grob.
Dann ist der Westen der liberale Part, und Russland ist der realistische.
Und daraus entstehen natürlich auch wieder bestimmte Formen des Einwirkens aufeinander – und des Aneinander-Vorbeiwirkens.
Polygordische Verflixungen
– Aber ist das denn wirklich so? Ist der Westen wirklich so liberal?
– Eben, Jan, genau diese Frage stellt sich da, und deshalb sage ich ja grob, sehr grob. Aber manchmal ist es eben besser, zunächst eine grobe Zuordnung zu haben als gar keine. Verfeinern kann man immer noch.
Und wenn man dann genauer hinschaut, dann erkennt man natürlich – das sehe ich ganz genauso wie du –, dass der Westen ist überhaupt nicht nur liberal ist. Es geht ihm ja nun wirklich nicht nur, ganz selbstlos, um die globale Demokratie und die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte. Es geht ihm auch sehr um seine eigenen Interessen. Und beides vermischt sich, teils auf ziemlich unangenehme Weise. Deshalb ist beim westlichen Liberalismus immer auch eine gehöre Postion Realismus dabei. Manche nennen es „Imperialismus“.
– Ja, das liegt auf der Hand … Und wenn man dann auf die andere Seite schaut, nach Russland, dann muss man vermutlich entsprechend sagen: Da ist es auch vermischt. Da ist beim Realismus immer auch Liberalismus dabei.
– Oh, nein, eben nicht. Ganz und gar nicht.
– Wie, dort gibt es keine Vermischung?
– Doch, eine Vermischung schon. Aber eine ganz andere. Der Liberalismus spielt in Russland so gut wie keine Rolle, jedenfalls nicht bei der russischen Regierung und ganz sicher nicht in deren Aussenpolitik. Aber trotzdem betreibt Russland natürlich keinen reinen Realismus, keine klassische Staatskunst nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts, auch wenn der Kreml gerne versucht, diesen Anschein zu erwecken. Im Fall von Russland ist es etwas anderes, was sich da mit Realismus vermischt und ihn sozusagen verwässert oder sogar verfälscht. Ich nenne das Taktizität.
Der Kreml ist eine hochgradig taktisch agierende Regierung. Nicht einmal strategisch, was einen langfristigen Plan bedeuten würde, sondern eben taktisch. Dieses Taktische sieht man ja überall: Beim Vorgehen auf der Krim, beim Umwerben westlicher anti-liberaler Politiker Lager, aber auch bei geheimdienstlichen Aktionen, wie diesen schrecklichen Vergiftungs-Anschlägen … da spielt das Taktische dann ins Verbrecherische hinüber. Ins Schurkische.
– Nicht unbedingt beruhigend, was meine Russland-Zeit angeht. Aber von der Sache her einsichtig. ––– Weisst du, wenn ich das jetzt alles noch einmal Revue passieren lasse: Da gibt es diese beiden Doktrinen, Liberalismus und Realismus. Sie helfen einem weiter, die Lage zu verstehen, aber mit ihnen allein bekommt man sie auch nicht zu fassen. Und wenn man sich auf ihre Konfrontation einlässt, oder auf ihre Mischungen, wie sie der politischen Realität entsprechen oder zumindest besser entsprechen, dann sind diese zusammengesetzten Einheiten von politischem Verhalten, die sich dann ergeben, diese … – wie kann man die nennen?
– Politischer Habitus*? Bestehend aus jeweils unterschiedlichen, miteinander verbunden politischen Dispositionen?
– Ja, vielleicht … Dann sind diese politischen Habitusse, Habiti … Also die sind dann auch nicht einfach symmetrisch zueinander, sondern irgendwie versetzt, miteinander inkompatibel, inkommensurabel … nicht eben übersichtlich, das Ganze.
– So ist es leider, Jan. Das Russland-Problem ist eine höchst undurchsichtige Angelegenheit. Als du neulich hereinkamst und meintest, ich könnte dir vielleicht dabei behilflich sein, dich zu orientieren, da wurde mir schon etwas unwohl zumute. Es gibt eben so viel, das man da in Betracht ziehen müsste. Wir haben gerade mal ein wenig an der Oberfläche gekratzt.
– Ja, inzwischen wird mir das auch immer deutlicher. Da braucht man mehr als ein paar Wochen, um da durchzusteigen.
– Allerdings. Man müsste ja noch über viele andere Dinge reden, um überhaupt nur irgendwie in die Nähe eines Punkts zu kommen, wo man sagen würde: Jetzt hat man das Problem halbwegs durchschaut. Zum Beispiel muss man sich Gedanken über das Medien-Thema machen. Welche Rolle spielt die Berichterstattung dafür, wie wir über das Russland-Problem denken, welche Rolle spielt Propaganda, wie sieht es aus mit den Möglichkeiten, Information zu manipulieren. Oder die Frage unserer eigenen Psychologie, wie wir die beteiligten Akteure beurteilen, welche Rolle zum Beispiel moralische Gefühle oder Intuitionen dabei spielen, und wie verlässlich die sind. Oder, wenn man einmal auf den ganz grossen Kontext schaut, die Frage, was überhaupt derzeit global geschieht mit dem westlichen Liberalismus, gegen den sich, in Europa, in Russland, aber auf eine Weise ja sogar auch in Washington beim derzeitigen US-Präsidenten, so etwas wie eine Gegenbewegung formiert. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Aber nicht, weil man zu undiszipliniert wäre und zu unmethodisch, sondern all diese Verzweigungen in der Sache selbst angelegt sind.
– Wirklich verflixt kompliziert.
– In der Tat. Und eben nicht nur einfach-verflixt, sondern mehrfach-verflixt. Dieses ganze Russland-Problem, das ist ein Gespinst, scheint mir, ein Knäuel, in das entsetzlich viele verschiedene Fäden einflochten sind, miteinander fast untrennbar verstrickt sind, ein vielfach-gordischer Knoten, und du kannst ihn weder ohne weiteres auflösen noch kannst du ihn einfach durchschlagen – ja, manchmal kommt es mir geradezu verhext vor, so, als hätte man es gar nicht mit einem Gespinst, sondern eher mit einem Gespenst zu tun, mit einem Ungeheuer, das einem aber jedes Mal entgegenspringt, wenn man die Zeitung aufmacht oder das Internet, ob man das möchte oder nicht – oh weh, schon halb fünf! Ich muss Anja aus dem Kindergarten abholen!
– Ja, ich sollte auch mal los. Ich hab zum Beispiel noch gar keine dicke Jacke.
– Moment mal, es ist Sommer!
– Ja, aber –
– Kannst du alles dort kaufen. Glaub nur nicht, dass es da irgendwie wild ist oder unterentwickelt.
Vorschau auf Teil II, III und IV
In diesem ersten Teil des vierteiligen Buchprojektes ging es um die Spaltung des deutschen Russland-Diskurses zwischen Liberalismus und Realismus.
In den Gesprächen mit Jan, dem Siemens-Ingenieur, der jetzt in die Moskauer Konzernniederlassung versetzt worden ist, wurde aber auch klar, dass das Russland-Problem allein mit diesen beiden Paradigmen nicht zu erfassen, geschweige denn zu „knacken“ ist: Die Sachlage ist hyperkomplex, das Problem ist im wahrsten Sinne des Wortes verflixt.
In zweiten Teil des Buchprojektes wird es darum gehen, einige dieser „Verflixungen“ zu lockern.
Dazu beschäftigen wir uns mit Themen wie der kontroversen Deutung der NATO-Osterweiterung, der Frage von Einflusssphären und ihrer Auswirkung auf mittel- und osteuropäische Staaten, mit der Problematik der medialen Verzerrung und der vorsätzlichen Manipulation von Medien durch Trolle und Bots und schliesslich mit der Frage, wie die Russland-Problematik in die derzeit in vielen Ländern des Westens zu beobachtenden anti-liberalen Tendenzen eingeschrieben ist.
Der dritte Teil ist dann ein kurzes Intermezzo zur Frage: „Ist Neutralität überhaupt möglich – und ist sie wünschenswert?“, bevor der Teil vier Vorschläge macht und Perspektiven eröffnet, wie mit den zahlreichen Ambivalenzen des Russland-Problems umzugehen ist.
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–––
Anhang A & B
A: real-liberal-Tabelle
Einige wichtige Charakteristika von Liberalismus und Realismus als Doktrinen / Theorien der internationalen Beziehungen. Es geht jeweils um die prototypischen Paradigmen in ihrer einfachsten, grundlegendsten Form, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
Liberalismus | Realismus | |
1. denkt generell | universalistisch (für alle gelten die gleichen Normen, Gesetze, Werte -> Demokratisierung) | partikularistisch (für jeden gelten sein eigenen Normen, Gesetze, Werte –> jeder nach seiner façon) |
2. denkt das Politische | global und kosmopolitisch | regional und national |
3. ist als Paradigma | „progressiv“, möglicherweise utopisch | „konservativ“, möglicherweise statisch |
4. internationale Ordnung | Recht, Regeln und Institutionen ordnen die internationale Sphäre (die sich von einer Anarchie zu einem Rechtsraum entwickelt) | Macht und Interessen bzw. deren Gleichgewicht ordnen die internationale Sphäre (die anarchisch ist und bleibt) |
5. Verhältnis von Innen- und Aussenpolitik | Fokus auf Innenpolitik, Verfasstheit der Staaten entscheidet über ihr aussenpolitisches Verhalten. | Innenpolitik ist irrelevant, Staaten werden als „black boxes“ gedacht. |
6. Werte und Menschenrechte | Werte und Menschenrechte sind ein absolutes Gut. | Werte und Menschenrechte sind ein relatives Gut. |
7. der Mensch | optimistisch: kooperations- und wandlungsfähig, „gut“ | neutral oder pessimistisch. ein „krummes Holz“, ebenso „gut“ wie „schlecht“ |
8. die Geschichte | eine Transformation, getrieben durch Zielvorstellungen, Werte, Optimismus, Visionen | ein statisches oder zeitloses Geschehen, beherrschbar durch Pragmatik |
9. Ableitung des politischen Urteils aus | Prinzipien, Zielvorstellungen, Zukunft | Geschichte, Vergangenheit, Erfahrung |
10. Moral | direkte Moralität, „Utopismus“ | indirekte Moralität, „Zynismus“ |
11. beruft sich auf | John Locke, Adam Smith, John Stuart Mill, Abbé de Saint-Pierre, Jeremy Bentham, Immanuel Kant sowie verschiedene moderne Schulen des Liberalismus | Thukydides, Niccolo Machiavelli, Thomas Hobbes, Edward Hallett Carr, Hans Morgenthau, Reinhod Niebuhr sowie verschiedene moderne Schulen des Realismus |
12. Probleme | Wie sind die Rechte (Menschenrechte, Völkerrecht) durchsetzbar? Wieso sollten sich Staaten demokratisieren? Wendet sich die Globalisierung gegen sich selbst? | Wie können globale Probleme gelöst werden? Wie können kleine Staaten sich behaupten? Wie kann Entwicklung geschehen? |
13. wichtige Vertreter (USA und Europa) | Woodrow Wilson, George W. Bush, Barack Obama (Politik); … (Theorie) | Henry Kissinger, (Politik); John Mearsheimer (Theorie) |
B: ein dritter Weg?
Ziel dieses Textes ist es, die Grundfiguren der jeweiligen Doktrinen, Theorien, Paradigmen sichtbar zu machen.
Und diese Grundfiguren sind heute, nach Jahrzehnten theoretischer Arbeit und praktischer Anwendung von Liberalismus und Realismus, allen Detailveränderungen und allen Neuerungen zum Trotz, heute noch die gleichen wie zu der Zeit, als sie in ihren modernen Varianten formuliert wurden.
Was den Realismus angeht, so stiessen die klassischen, aus der Zwischenkriegszeit stammenden Theorien von Carr, Morgenthau und Niebuhr, während des Kalten Krieges an ihre Grenzen. Man hatte es mit zwei massiven, sich zueinander relativ statisch verhaltenden Blöcken zu tun, nicht mehr, wie zuvor, mit kleinteiligen Machtdynamiken zwischen einzelnen Staaten.
Die Theorien mussten der Realität folgen und sich anpassen.
Daher stellte der vor allem von Kenneth Waltz* begründete Neorealismus in den 1970er und 1980er Jahren weniger die Frage nach dem menschlichen Verhalten (dem Verhalten der Staatsleute) als Triebkraft der internationalen Politik, statt dessen rückte er die strukturelle Analyse der Machtblöcke in den Mittelpunkt. Deren Interesse ist nach dem Neorealismus auch nicht mehr in erster Linie die Machtausweitung, sondern vor allem die eigenen Sicherheit und das eigene Weiterbestehen.
Der Neorealismus ist auch heute noch weitgehend aktuell. In seinem Rahmen wird etwa versucht, die Fragen nach der unipolaren, bipolaren oder multipolaren Weltordnung zu verstehen, wie sie nach dem Zerfall der UdSSR nötig geworden sind.
Auch innerhalb des Neorealismus gibt es Debatten, etwa zwischen den „defensiven Realisten“ in der Nachfolge von Waltz und den „offensiven Realisten“, die der Ansicht sind, das Sicherheitsbedürfnis der Staaten führe letztlich doch zu einem Streben nach Hegemonie – also, in Anknüpfung an den klassischen Realismus, zu einem Streben nach Erweiterung der Machtsphäre.
Der amerikanische Politologe John Mearsheimer wendet dieses Denken immer wieder auch auf die Russland-Problematik an. So erregte er etwa kurz nach der Annexion der Krim einiges Aufsehen mit einem Artikel, in dem er die These vertrat, nicht Russland, sondern der Westen trage die Verantwortung für die Krim-Krise: Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault – The Liberal Delusions That Provoked Putin.
Und genauso wie der Realismus hat auch der Liberalismus eine Entwicklung durchgemacht.
Im Neoliberalismus (nicht zu verwechseln mit der Wirtschaftsdoktrin gleichen Namens), der massgeblich auf Robert Keohane* und sein Buch After Hegemony zurückgeht, stehen die Institutionen im Mittelpunkt, die die Demokratisierung und Verrechtlichung der internationalen politischen Sphäre überhaupt erst möglich machen.
Diese sind nicht nur die Regierungen selbst, sondern zum Beispiel auch die NGOs, die sich mit Menschenrechten oder anderen zivigesellschaftlichen Themen befassen, die Wirtschaft und verschiedenste weitere, gar nicht unbedingt formal organisierte Akteure.
Hier schliesst sich auch das Konzept der soft power an, das Joseph Nye* vor allem in Bezug auf die amerikanische Aussenpolitik entwickelte, und das inzwischen wie selbstverständlich auch in der allgemeinen öffentlichen Debatte verwendet wird.
Aber natürlich hat das auch das neoliberale Denk-, Forschungs- und Handlungsprogramm weiterhin eine ganz andere Stossrichtung als das neorealistische.
Wie den klassischen Realisten geht es auch den Neorealisten weiterhin darum, die internationale Dynamik auf ihre „natürlichen“ Triebkräfte zurückzuführen, ideologische Täuschungen zu enttarnen und praktische Fehler zu vermeiden. Und ebenso wollen auch die Neoliberalen, ganz wie ihre klassischen Vorgänger, neue Perspektiven eröffnen, Missstände abstellen und Entwicklungen möglich machen. Diese neoliberalen Programme zeigen sich auch in vielen konkreten Themen aktueller westlicher Politik: Alle politischen Bestrebungen, die auf internationale Gerechtigkeit abzielen, von der Dekolonialisierung (auch Rückgabe von Kunstwerken) bis hin zu einem auf Gerechtigkeit bedachten Management der Globalisierung, gehören insofern im weiteren Sinne auch in den Bereich der neoliberalen Schule der internationalen Beziehungen.
/// work in progress
Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass es sich hier um Archetypen des politischen Denkens handelt, zwischen denen ebenso ein kaum je enden wollender kontroverser Dialog gefühlt wird wie zwischen Platonismus und Artistotelismus in der Philosophie . / Konvergenz? / Die Partie zwischen Liberalismus und Realismus jedenfalls ist sicherlich noch offen, und heute sicher wieder offener als noch vor drei Jahrzehnten,)
Sicher, die neueren Theorie-Versionen erfassen die aktuelle Wirklichkeit besser als die es die historischen können. Aber das ändert nichts daran, dass sie Variationen der Grundideen sind. Und wenn man die in seinem Kopf parat hat, dann verfügt man bereits über ein sehr wichtiges und auch heute immer noch gültiges Instrumentarium.
Wäre aber falsch, wenn Eindruck entstanden, dies seien die beiden einzige und ewigen Theorien oder Doktrinen oder Paradigmen der internationalen politischen Beziehungen,
es gebe ausser ihnen nichts drittes.
Gibt es ausser Liberalismus und Realismus noch eine dritte Theorie beziehungsweise Doktrin in den internationalen Beziehungen? Womöglich eine, die diese beiden auf irgendeine Art zusammenbringt, oder ihre jeweiligen Defizite ausgleicht? Eine Theorie, die es dann womöglich auch ermöglichen würde, das Russland-Problem so zu denken, dass man nicht alle Nase lang auf Widersprüche und innere Unvereinbarkeiten stösst?
Die Theorie, die – zumindest im Bereich der Forschung über die internationalen Beziehungen – derzeit den grössten Zulauf hat, jedenfalls wenn man von den neo-Liberalismus und neo-Realismus einmal absieht, ist sicherlich die sogenannte konstruktivistische Theorie, die verbunden ist mit Namen wie Nicholas Onuf oder Alexander Wendt. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass die eigentlich ausschlaggebenden Faktoren in den internationalen Beziehungen weder in der Natur der handelnden Menschen noch in spezifischen Eigenschaften des internationalen Staatensystems zu finden sind. Für den Konstruktivisten sind diese Faktoren vor allem immaterieller Art, es sind die Ideen und die Normen, unter denen das Handeln stattfindet, und diese sind nach konstruktivistischer Ansicht das Ergebnis sozialer Deutungs- und Konstruktionsprozesse. Es kommt also bei allen Wirklichkeiten der internationalen Sphäre letztlich weniger auf diese Wirklichkeiten selbst an als darauf, um eine Wort von Alexander Wendt zu verwenden, „was man daraus macht“. Insofern interessiert sich der Konstruktivismus auch besonders für Faktoren wie kulturelle Identität oder Handlungskalküle.
dies aber vor allem für die Forschung interessant. Der Konstruktivismus taugt mehr dafür, Konstellationen und vor allem ihr Zustandekommen zu verstehen, als Rezepte dafür zu liefern, wie mit ihnen umzugehen ist. Er ist in der Tat ein reiner Theorie-Ansatz, keine Doktrin. Insofern kann man auch nicht sagen, dass er dazu in der Lage wäre, die Kluft zwischen (neo-)Liberalismus und (neo)-Realismus zu überwinden: Er liefert schlichtweg etwas anderes.
Wenn überhaupt, dann wäre so etwas wie ein dritter Weg vielleicht an anderer Stelle zu finden – nämlich bei der sogenannten Englischen Schule der internationalen Beziehungen, die aus vielerlei Gründe (nciht zuletzt aus denen der Übermacht der USA in der Forschungslandschaft) lange Zeit im Schatten / auf der Schattenseite / des akademischen und politischen Interesses stand. Die Englische Schule, die auf Hedley Bull und Martin Wight zurückgeht, wird gelegentlich auch „liberaler Realismus“ genannt, und in der Tat kombiniert sie Elemente beider Denkmodelle.
Zentral in der Englischen Schule ist das Konzept der „anarchischen Gesellschaft“. Dies scheint zunächst einmal ein Selbstwiderspruch zu sein: Entweder es herrschaft Anarchie zwischen den Staaten, wie es die Realisten annehmen – denn handelt jeder gegen jeden. Oder die Staaten bilden eine Gesellschaft oder eine, mit den Liberalen gedacht „internationale Gemeinschaft“: Die schliesst natürlich eine anarchische Gesetzlosigkeit aus.
Der Widerspruch wird aber sinnvoll aufgelöst, wenn man dazu noch die Komponente der historsichen Dynamik betrachtet: Die Englische Schule nimmt an, dass es Mittel und Wege gibt, von der anarchischen Ausgangssituation des Realismus zu einer „Vergesellschaftung“ der Staaten zu gelangen, in der die Staaten freiwillig miteinander kooperieren. Im Unterschied zum klassischen Liberalismus ist diese „Staatengesellschaft“ aber ein plastischeres und wenig stark reguliertes Gebilde, und vor allem ist der Weg zu ihr ein allmählicher, Schritt für Schritt, der sich nicht durch einen 14-Punkte-Plan / abkürzen lässt.
Entsprechend ihrer integrativen und dynamischen Ausrichtung verbindet die Englische Schule die wichtigsten Prinzipien: Staaten handeln aus Interessen heraus, aber Normen, Regeln, Gesetze spielen eine Rolle. Ihre Annahme ist, dass die Wechselwirkung zwischen den Staaten selbst „sozialisiernd“ wirk.
Andererseits hat die Englische Schule, die man vielleicht auch eine Schule der Moderation und der Weisheit nennen könnte, in der Tat in der Praxis wenig Relevanz. Man braucht sie nicht, so sehr das zu beklagen ist, um das Russland-Problem zu verstehen. Sie könnte vielleicht einen Beitrag dazu leisten, es zu lösen – aber auch das nur dann, wenn Politiker sowohl im Osten wie im Westen ihre Denkweise übernehmen würden.
Und so bleibt derzeit wohl nicht mehr, als mit diesem Konditional / Konjunktiv zu leben. Und ein Buch zu schreiben, das zwar in keiner Form den theoretischen Vorgaben der Englischen Schule verpflichtet ist, aber doch, von seiner Motivation her, eine gewisse Nähe zu ihrem anti-radikalen, anti-prinzipiellen Geist besitzt.
Aber sowieso lässt sich ein komplexes Problem wie das der Situation zwischen Russland und dem Westen, das sich auf so vielen Ebenen zugleich abspielt, in dem so viele Register des Politischen, Historischen, Emotionalen, Medialen und nicht zuletzt des höchst Persönlichen eine Rolle spielen, unmöglich allein anhand von Theorien in den Griff bekommen.
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