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Das Erbe Gottes und der Klang des Hirns

Gott ist ein Untoter, auf der Schwelle zwischen Sein und Nicht-mehr-Sein. Wie kann er Ruhe finden? Was kommt nach ihm? | Das Hirn ist ein Klangorgan, Wunder ist real, Ahnungen sind Räusche.

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Unser Geist, von dem wir meist wahlweise annehmen, er sei eine Art Computer oder ein Kino im Kopf, ist ja eigentlich ein Klanggeschehen. Solange in ihm noch das Motiv Gott seine alte Rolle innehatte, erklangen auch die verschiedensten Heilig-Ahnungen. Was ist heute mit ihnen?

Heilig-Ahnungen sind keinen stattlichen, vollen Klänge. Sie sind, wie alle Ahnungen, sehr feine geistig-akustische Phänomene, nicht kraftvoll genug, um ohne weitere Hilfe den sprachlichen Aussagen-Apparat in unseren Köpfen in Gang zu setzen (wer sagen würde: Das und das ist heilig, Punkt!, von dem wüsste man bereits, dass er sich täuscht). Heilig-Ahnungen gehören nicht zu den eigentlichen Tönen, sie stammen aus den vagen Gefilden des Rauschens, und selbst in denen machen sie sich noch besonders zart und ephemer aus, so dass man sie aus gutem Grund auch Räuschlein genannt hat.

Nun ist nicht jedes Räuschlein wert, dass man ihm lauscht. Viel Überflüssiges säuselt da vor sich hin, kommt und vergeht. Die Heilig-Ahnungen allerdings sind klanglich relevant. Nicht umsonst hatten sie von jeher einen festen Platz nicht nur in den Gott-bezogenen Klanglichkeiten unserer eigenen Traditionen, sondern auch in den östlichen, gottfreien Sonoritäten. Doch es ist nicht nur ihre verhältnismässige Beständigkeit, die die Heilig-Ahnungen von anderen, minderen Räuschlein unterscheidet, sondern vor allem ihre Wirklichkeits-Adäquanz. Denn nichts ist realistischer als die Heilig-Ahnungen. Das kann man leicht erkennen an der Allgegenwart von Wunder, wozu die Heilig-Ahnungen die klangliche Entsprechung sind. 

Ich sage bewusst nicht des Wunders oder von Wundern, denn dann würde man unweigerlich an miracula denken, jene nur in der Phantasie existierenden Vorfälle, bei denen die Naturgesetze durchbrochen oder ausser Kraft gesetzt werden (die Auferweckung eines Toten, ein brennender Dornbusch, ein zurückweichendes Meer). Hier geht es aber um die mirabilia, also ganz und gar natürliche Erscheinungen, die dennoch Anlass zu grenzenlosem Erstaunen und endloser Bewunderung geben – und welche natürliche Erscheinung würde, zumindest bei näherer Betrachtung, das nicht tun?

Man kann sich mit den nüchternsten Wissenschaftlern unterhalten – je tiefer sie ihr Fachgebiet erforscht haben, je häufiger sie an die Grenzen ihrer Erklärens-Fähigkeiten gestossen sind, desto deutlicher nehmen sie Wunder wahr, desto mehr sind sie vom Wissen um Wunder durchdrungen.

Den grossen Physikern etwa werden Materie und Kosmos zu einer einzigen antwortlosen Frage. Und auch diejenigen, die sich mit der Welt des Lebendigen beschäftigen, erkennen überall Wunder, wenn sie die scheinbaren Sicherheiten ihres Faches hinter sich gelassen haben – den simplen Darwinismus, die sogenannte Kreation.

Ich wüsste niemand aus irgendeiner Wissenschaft, der sein Fach mit Leidenschaft betrieben hätte und nicht auf Wunder gestossen wäre. Man nehme die Formel: Alles ist Wunder – sie ist, zumindest, wenn man gedanklich noch ein in letzter Instanz hinzusetzt, zweifellos korrekt und fast schon eine Trivialität.

Wunder ist vielleicht die Grundeigenschaft der Welt, vielleicht ihre eigentliche Substanz, und so sollte man meinen, dass wir Tausendundeine Möglichkeit besitzen, Wunder in unseren Köpfen und Herzen zu wägen, uns Wunders zu vergewissern und uns über Wunder auszutauschen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Unsere Worte erstarren gegenüber Wunder in fast vollständiger Hilflosigkeit. Ja selbst vom wortlosen Denken lässt sich Wunder nicht dingfest machen. Allein in den zarten Räuschlein der Heilig-Ahnungen findet es seinen Widerklang.

II
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Die Heilig-Ahnungen spriessen nicht freigemut aus der Welt hervor wie Blumen aus dem Felde. Etwas oder jemand muss sie hegen und nähren, und besser als irgendein Mensch vermag oder vermochte das Gott zu tun.

Auch Gott war natürlich Klang (war oder ist? wir kommen dazu noch), aber seine Klanglichkeit auseinanderzulegen in ihre unzähligen sonoren Konstituenten und einander überlagernden Teilschwingungen, das führte hier zu weit. Stellen wir nur fest, dass das mächtige Motiv Gott mit der zarten Klanglichkeit der Heilig-Ahnungen aufs innigste verbunden und verflochten war, ja, dass sie, ohne unablässig von Gott sonor genährt zu werden, selbständig kaum dauerhaft hätten erklingen können.

Dies alles wird klarer, wenn wir es von der Poesie her betrachten.

Wir sagten oben, die Heilig-Ahnungen, jene vagen und doch so wertvollen Räuschlein, besässen alleine nicht die Kraft, den sprachlichen Aussagen-Apparat in Bewegung zu versetzen. Dieser Begriff – Aussagen-Apparat – war mit Bedacht gewählt. Denn an der Hervorbringung von Sprache überhaupt können Heilig-Ahnungen sehr wohl beteiligt sein, nur eben nicht von Aussagen-Sprache, sondern von Andeutungs-Sprache, das heisst von Poesie.

Denn wenn die Heilig-Ahnungen nicht allein bleiben für sich, sondern erfüllt und getragen werden vom schallenden Tönen Gottes, jenes geistigen Alles-Beschwingers, wenn sie sich anschliessen an Gott, sich hingeben diesem poetischten aller Worte, dann beginnt ein Strom des Redens, der sich in immer neuen Figuren herumschlingt um Wunder und es doch nie unmittelbar berührt – ein Strom nicht des bezeichnenden Redens, sondern einer, in dem die Bedeutungen verblassen, in dem der Sinn Leichtigkeit erlangt, ein Strom eher der Sangesworte denn der gewöhnlichen, wie Münzen hingesprochenen – und nichts anderes war ja die Religion: ein Gesang.

(Natürlich war Religion mehr als nur Reden, sie war auch Tun – aber auch dieses Tun war kein verrichtendes Tun, sondern andeutendes Tun, es war selbst dichterisch.)

Dieser Strom des sangesgleichen Redens ist versiegt. Er ist versiegt aufgrund des Zustands Gottes. Die Heilig-Ahnungen, mögen sie irgendwo noch bestehen, kommen nicht mehr zu Wort. Die kostbaren Räuschlein, von keinen Gott genährt und belauscht von keinem Menschen, verdorren.

III
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Ist Gott oder war er? Über diese Frage herrscht keine Einigkeit. Die einen sagen, Gott sei der Urgrund des Seins selbst und könne daher gar nicht nicht sein oder womöglich vergehen. Die anderen hingegen führen an, Gott sei schon immer nur eine Illusion gewesen, eine vom Menschen erdachte Trost-Phantasie, und mit der Wissenschaft, unserer würdigsten Quelle der Erkenntnis, keinesfalls vereinbar, und die grossen, Gott zum Trotz von den Menschen begangenen Verbrechen liessen den Versuch, an ihm festzuhalten, geradezu zynisch werden.

Ist Gott nun der lebendige Gott, oder ist er tot?

Für beides könnte man Indizien sammeln. Worauf weist das Beharren des Glaubens hin, allem zum Trotz? Worauf der weitverbreitete Überdruss an der modernen Nüchternheit? Worauf das Schweigen der Wissenschaften vor den letzten Fragen? Worauf ihre Beredtheit in den vorletzten? Aus dem Deuten und Auslegen kommt man doch nicht heraus und kann zum einen wie zum anderen Ergebnis gelangen.

Was mich betrifft, bin ich von einem Dritten überzeugt: Gott ist auf der Schwelle. Er ist weder da, noch ist er fort, sondern er ist im Übergang. Er ist nicht tot und nicht lebendig, er ist ein Untoter, und er steckt in diesem Zustand fest, was schrecklich ist für ihn wie auch für uns. Für uns noch mehr.

IV
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Fassen wir zusammen. Die Substanz der Welt ist Wunder. Das klangliche (geistige) Äquivalent von Wunder sind die zartklingenden Heilig-Ahnungen. Sie gediehen bislang nur mit Gott, sie stiessen ins Sprachliche vor nur im grossen Strom der Gottes-Poesie. Nun aber ist Gott ein Untoter, seine dünnen, schwachen Hände taugen nicht, um die zarten Räuschlein zu hegen. Die Heilig-Ahnungen verdorren, wir sind ihrer verlustig gegangen. Ohne sie aber ist das Klingen unseres Geistes nicht nur unvollständig, es ist grundsätzlich falsch. Und auch alles sonst, unser ganzes In-der-Welt-Sein ist ohne die Heilig-Ahnungen grundsätzlich falsch.

Wir müssen die Heilig-Ahnungen zurückgewinnen. Wie und woher? Das ist die grosse Frage, vor der wir heute stehen. 

Es müssen nicht die alten Heilig-Ahnungen sein. Sie können es wohl auch nicht sein. Epochen vergehen, auch in der Poesie, auch in der geistigen Sonorik. Was wir brauchen, sind neue Heilig-Ahnungen, solche, die auch in einer gottfreien Zeit dauerhaft klingen können. Solche, die von neuem Anlass geben zu einem Reden, das sich Wunder annähert, ohne es je zu erreichen. Solange es fehlt, gehen auch unsere Worte weiter an der Wirklichkeit vorbei.

Fragt mich nicht, woher diese neuen Heilig-Ahnungen kommen sollen. Entstünden sie, so müsste man das wohl eine Offenbarung nennen – nicht eine, in der der Geist eines als lebendig gedachten Gottes sich kundtäte, sondern eine, die zustande kommt, indem des ehemaligen, des gewesenen Gottes Geist sich neu in unsere Welt ergiesst, und wir, als ahnend-Sprechende, ihm neue Formen geben.

Zum Abschluss ein Gedicht:

V
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Nicht fort / noch nicht vom Tisch / oder zumindest erst zur Hälfte
noch weiterhin zugegen / noch immer da 

ein ruheloser Geist gewaltigen Formats / er kann nicht hin, nicht her / er quält sich, wartet auf Erlösung

die meinten, er würde platzen wie ein alter Luftballon, die täuschten sich 

Sicher, er ist nicht mehr das Herz der Welt. 

früher war alles anders / früher geschah alles mit ihm im Sinn / als er noch mit der Wucht des Blitzschlags uns ins Taumeln brachte oder ins Schwärmen / das Lieben und das Schuldigwerden / Erschrecken, Überschwang, Geburt und Sterben / alles in seinem Namen 

Heute ist er zurückgezogen an die Grenzflächen ins Nichts, die dünnen Ränder 

dort, wo das Leben auf des Messers Schneide steht / oder am anderen Pol des Unbegreiflichen, am raren glücklichen / ein Heimlicher / wie einen Fremden nachts im eigenen Haus kann man ihn spüren / wie er sich in die Ecken drückt mit angehaltenem Atem

aber er ist nicht fort / noch nicht vom Tisch / oder zumindest erst zur Hälfte

Das Wort, bei dem wir ihn gemeinhin nennen / das Wort, das ehemals in aller Munde war

es schneidet jetzt ins Ohr / es legt sich jetzt vor unseren Zähnen quer

wir wissen nicht mehr, was das Wort bedeutet

verstehen es so falsch wie kaum ein anderes Wort

aber es ist nicht fort / noch nicht vom Tisch

Was muss das heissen: das Grösste überhaupt zu sein, das Eichmass aller anderen Masse, und dann zur Hälfte abgeschafft zu werden. Zur Hälfte! Wie ein entzweigeschnittener Wurm.

Er quält sich, wartet auf Erlösung, sein Schreien ist überall, ein Klagen ohne Ende und Beginn, als speise es der Atem einer Orgel. Es quillt aus unseren Häusern vor wie Ofenrauch, entfährt bei jedem Wort als Beiklang unseren Lippen, in jedem Lachen ist es noch verborgen –

Er sagt: Erst wenn ihr mich bei meinem wahren Namen nennt, bin ich befreit / erst dann wird euch mein Erbe übergeben –

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Übrigens: Wieso ist unser Geist ein Klanggeschehen und kein Computer und kein Kino im Kopf?

Der Geist ist Klang, weil die Zellen unseres Gehirns ständig feinste rhythmische Signale miteinander austauschen, wie winzigste Elektrogitarren. Die meiste Zeit wild durcheinander. Doch wenn sich ein Gedanke formt, dann fallen einzelne Neuronengruppen in einen Gleichtakt, feuern im gleichen Rhythmus, synchronisieren sich im 40-Hertz-Frequenzbereich – und dann, tonlos, entsteht ein Klang.

Das Hirn: ein Klangkörper. Ein Instrument, welches sich selber spielt. Ein durch und durch akustisches Organ.