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Ethischer Chauvinismus

Diese philosophische Skizze zum Fall Sea-Watch 3 ist unmittelbar nach den Ereignissen im Hafen von Lampedusa entstanden. Sie enthält über die aktuelle Thematik hinaus Reflexionen zur Ethik, die ich in absehbarer Zeit in eine systematischere Form bringen will. Im Anschluss an diese Skizze, die zuerst auf medium.com erschienen ist, habe ich einen präziser ausgearbeiteten Essay auf ZEIT online veröffentlicht, der grosse Resonanz hervorgerufen hat (hier eine Vorschau des Textes auf diesem Site).

Das Thema von Migration und Seenotrettung ist heikel und sensibel – mit gutem Grund. Meine eigene Position entwickelt sich ständig weiter, konstant bleibt aber das Empfinden, zwischen den beiden Polen, die ich in dieser Skizze als „Ethik A“ und „Ethik B“ kennzeichne, hin- und hergerissen zu sein – mit einer leichten Präferenz für B.

Wie immer sich jemand positioniert: Solange er auf die ethische Herausforderung der Situation in einer Weise reagiert, in der die Moral – das Bestreben, gut und nach bestem Gewissen zu handeln und auch dem Wohl anderer Menschen zu dienen – eine aufrichtige Rolle spielt und nicht als Deckmantel des Egoismus fungiert, verdient er oder sie es, gehört zu werden.

Seitdem es den Menschen gibt, versucht er, gut zu sein und das Richtige zu tun. Vielleicht nicht jeder Mensch und vielleicht nicht immer, aber doch sicher die meisten Menschen die meiste Zeit. Das zumindest kann Hoffnung machen.

Und seitdem es den Menschen gibt, versucht er auch, zu verstehen, was denn das Gute und das Richtige überhaupt sei und welche Handlungen nötig sind, um es zu verwirklichen. Die Ansichten darüber gehen extrem auseinander — so extrem, dass „dem einen sein Gutes dem anderen sein Übel“ sein kann und umgekehrt — es ist vertrackt, es könnte einen in den Wahnsinn treiben.

Die Zahl der Ethiken, die zu verschiedenen Epochen und in verschiedenen Kulturkreisen formuliert worden sind, geht ins Unüberschaubare, und wenn man sie nach verschiedenen Grundtypen ordnet, so kommt man immer noch auf mindestens ein Dutzend: Bei manchen steht das Gemeinwohl im Mittelpunkt, bei anderen das Gute Leben des einzelnen, bei wieder anderen die Umsetzung eines göttlichen Willens und so weiter.

Und natürlich ist die Kluft zwischen Theorie und Praxis extrem weit: Ich kann mit einer extrem fein ziselierten Ethik ausgestattet sein wie etwa der Kant’schen, und dennoch dem Leben völlig hilflos gegenüberstehen.

Migration und Carola Rackete
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Vielleicht sind ethische Theorien einfach irrelevant? Dass das nicht so ist, zeigt sich schon daran, dass in der sich zunehmend globalisierenden Welt ethische Fragen an jeder Ecke und in jedem Winkel hervorbrechen. Es zeigt sich insbesondere an der Problematik von Flucht und Migration, und es zeigt sich in noch einmal besonders zugespitzter Weise am Fall Carola Rackete und der von ihr geretteten Menschen.

In all diesen Fällen sind wir unmittelbar auf unser ethisches Urteilen zurückgeworfen (oder, wer es konkreter liebt: auf unsere Moral). Denn die Orientierungskraft von Gesetzen, die uns einen gewissen Teil der Last des eigenen moralischen Urteilens abnehmen könnten, ist noch schwach — Gesetze regeln die Thematik Flucht und Migration bisher nur unvollkommen. Und auch gewohnheitsmässige Sitten, an die sich ebenfalls ein Teil der moralischen Verantwortung delegieren liesse, haben sich für den Umgang mit diesen neuen Situationen noch kaum herausgebildet.

Die Methoden und Figuren, nach denen die Seele (Ethik ist ja nicht nur eine Sache des rationalen Verstandes) versucht, mit ethischen Herausforderungen umzugehen, mögen ihrer Zahl nach unüberschaubar sein. Breitet man diese Kollektion ethischer Theorien aber einmal vor sich aus wie auf einem Teppich, so sieht man, wie sich gewisse Muster bilden, wie die Einzeltheorien sich um zwei Zentren herum ballen: Es gibt sozusagen zwei Sternenhaufen von Ethiken, die in einer Grauzone ineinander übergehen.

Es sind schon viele Versuche unternommen worden, diesen Ballungen Namen zu geben, keiner ist wirklich befriedigend. Manche sprechen von deontologischen Ethiken (solche, die von moralischen Pflichten ausgehen) auf der einen und teleologischen Ethiken auf der anderen Seite (solchen, bei denen das Ziel des Handelns entscheidend ist), andere von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, verschiedenste andere Systematiken sind denkbar.

Man könnte auch, was mir persönlich das Sinnvollste scheint, überhaupt auf präzise Terminologien verzichten und sagen: Bei der einen Ballung, beim „Ethik-Typ A“ steht irgendwie der einzelne handelnde Mensch im Mittelpunkt (bei Tugendethiken, Pflichtethiken, Intuitionsethiken); beim „Ethik-Typ B“ irgendwie die Gesamtheit, das System, die Auswirkungen des Handelns auf den Zusammenhang (bei konsequentialistischen, utilitaristischen Ethiken, Rechtsethiken, Gemeinwohlethiken).

Das Verhältnis zwischen diesen beiden Typen oder Klassen von Ethik ist überaus kompliziert. Zum einen lässt sich jede Ethik aus der einen Klasse auch unter Gesichtspunkten der anderen betrachten (ein tugendhaftes Handeln hat zum Beispiel auch systemische Folgen für die Gesellschaft). Zum anderen konkurrieren vermutlich im Inneren jedes moralisch bewussten modernen Menschen mehrere Ethiken miteinander, die untereinander auch noch in heftige Konflikte geraten können (wer hätte sich nie moralisch zerrissen gefühlt?).

Aber technische Details beiseite. Wichtig ist, festzuhalten, dass es eine unüberschaubare Pluralität von grundsätzlich gut begründbaren (und damit auch grundsätzlich erst einmal gleichwertigen) Ethiken gibt und dass diese Ethiken zu verschiedenen, mitunter konträr gegensätzlichen Bewertungen moralisch relevanter Situationen führen können.

Wie im Fall der Migration, wie im Fall Carola Rackete.

A-Ethiken und B-Ethiken
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In einer groben Annäherung (und mehr als grobe Annäherungen kann es in einem Posting wie diesem nicht geben) kann man sagen, dass Menschen, die mit einer Ethik des Typs A ausgestattet sind, das Handeln der Kapitänin eher positiv, Menschen mit einer Ethik des Typs B eher negativ bewerten werden.

Für Menschen mit einer Ethik A ist das Gesamthandeln der Sea-Watch-Kapitänin ein mutiger Rettungsakt, moralisch ausgesprochen positiv zu sehen und mit leuchtendem Vorbildcharakter für uns alle.

Für Menschen mit einer Ethik B hingegen ist ihr Gesamthandeln sehr kritisch zu bewerten, denn es basiert auf einer zumindest indirekten Kooperation mit kriminellen, menschenverachtenden Schlepperbanden, missachtet europäische Gesetze, schadet den innereuropäischen Verhandlungen über eine bessere Migrationsgesetzgebung und so weiter.

Für die einen ist damit die Kapitänin der Sea-Watch 3 eine Heldin, für die anderen zumindest ein gedankenloser Störenfried in einer hochsensiblen Angelegenheit.

Mit das Handeln von Carola Rackete ist hier nicht der punktuelle Akt gemeint, Menschen aus einer lebensbedrohlichen Notsituation auf See zu befreien: dass der gut und richtig ist, steht ausser Zweifel. Es geht um die ganze Handlungskette: Mit dem Schiff einer privaten Organisation an die Grenzen libyscher Gewässer zu fahren, sich dort für die Aufnahme von Schiffbrüchigen bereit zu halten, diese dann entgegen der staatlichen Anweisungen in einem italienischen Hafen an Land zu bringen und so weiter.

Dass diese Handlungskette selbst wiederum in einem riesigen und hochkomplexen Zusammenhang steht, liegt auf der Hand: Sie hat ja nur Sinn in einer Situation, in der die Faktoren Migrationsdruck, Krieg und Flucht, Wohlstandsgefälle, organisierte Überfahrtsversuche, koloniale Geschichte etc. etc. zusammenkommen. Insofern lässt sich von den ethischen Bewertungen der Handlungskette der Kapitänin Carola Rackete teils auch auf generelle Einstellungen zur Flucht- und Migrationsthematik schliessen.

Unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ ausfallen: Diese Bewertungen, von denen hier die Rede ist, beruhen immer auf ethischen Kriterien. Es sind eben nur die Kriterien verschiedener Ethiken.

Für die einen, diejenigen, die positiv werten, lautet die ethische Denkfigur: So hat ein Mensch zu handeln. Wenn andere in Not sind, werden sie an die sicherste Stelle gebracht. Und nicht zurück in das Land, dem sie entfliehen wollen. Wenn Gesetze dagegensprechen, muss man sie in diesem Fall missachten, was besonderen Mut erfordert. Bravo!

Für die anderen, die negativ Wertenden hingegen lässt sich die ethische Denkfigur ungefähr so fassen: Die kriminellen Schlepper, die Menschen bewusst der Todesgefahr aussetzen, vertrauen auf Menschen wie Carola Rackete. Die Kapitänin hält durch ihr Handeln ein Todesbusiness am Laufen, das selbst die Voraussetzungen schafft, unter denen Rettungen überhaupt erst nötig werden. Dazu kommen all die Probleme, mit deren Bewältigung sich unsere Gesellschaften gerade beschäftigen: dass ein Grossteil der Einreisenden keinen Asylstatus bekommen wird, dass Italien gesellschaftlich bereits durch die Migrationsthematik bis zum Zerbrechen angespannt ist, dass die Europa-Feinde dort durch die Gesetzesübertretung einer Deutschen weiteren Auftrieb bekommen. Racketes Anliegen mag persönlich ehrenvoll sein, aber im Ergebnis ist es schädlich, und das Ergebnis ist es, was zählt.

Während die ethischen Denkfiguren der Gruppe A kompakt sind und sich auf wenige Worte zusammenfassen lassen, verzweigen sich die der Gruppe B in die verschiedensten Richtungen, weshalb ich einzelne Punkte nur beispielhaft genannt habe. Das entspricht den Wesensunterschieden dieser Ethiken: Die einen gehen — punktuell — vom einzelnen Menschen aus, die anderen — synthetisierend — vom ganzen System.



Die rechte Koinzidenz
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Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass jeder, der Carola Rackete als Störenfried betrachtet, aus ethischen Beweggründen zu dieser Einschätzung gelangt. Viele, die jetzt in Italien „Verbrecherin“ rufen, sind mit grosser Sicherheit schlicht vulgäre Egoisten, denen die höheren moralischen Fragen und das Schicksal des Grossen und Ganzen egal sind, ja die diese Fragen vermutlich noch nicht einmal wahrnehmen. Das ist eine bittere Wahrheit, der gegenüber man sich keinen Illusionen hingeben sollte.

Aber auf der anderen Seite kann man aber sehr wohl eine kritische, skeptische Haltung gegenüber dem Handeln der Kapitänin haben (und gegenüber den privaten Schiffsmissionen im Allgemeinen), ohne ein primitiver, vulgärer „Rechter“ zu sein (dieses Wort musste hier einmal fallen). Und ein Grossteil derer, die mit Sorge und Befremden auf Carola Rackete schauen, ist wohl nicht dem nationalistischen oder gar faschistischen Rand zuzuordnen. Sondern sie gehören dem Lager derer an, die in ethischer Hinsicht systemisch denken, vielleicht den Bürgerlichen, vielleicht auch den Konservativen, vielleicht sind diese Personen Juristen oder sie sind Philosophen einer moderaten Schule — für diese Position kommen viele unterschiedliche Heimaten in Frage. Man sieht dies zum Beispiel am Theologen und Philosophen Richard Schröder, der sich gerade sehr kritisch zu diesen Vorgängen geäussert hat.

Dies ist etwas, das man sich wirklich deutlich vor Augen führen muss: Die Aussagen von Personen, die durch Ethiken des Typs B motiviert sind (Systemethiken, Verantwortungsethiken …), können vom ersten, oberflächlichen Erscheinungsbild her zusammenfallen mit denen a-moralischer, ja anti-moralischer Nationalisten. Das heisst, die Aussagen beider Gruppen, der moralischen wie der a-moralischen, können sich gegebenenfalls auf die gleiche semantische Grundfigur kondensieren lassen, nämlich: Carola Rackete naja, eher schlecht. Dennoch sind diese Aussagen von ihrem Sinn her grundverschieden, ja einander gegensätzlich.

Denn die Nationalisten (Sexisten, Xenophoben, Reaktionäre, was immer hier mit hineinspielt) wollen schlicht, dass man sie mit dem ganzen Flucht- und Migrationsproblem in Ruhe lässt. Sie sind Realitätsverweigerer, die die Herausforderung der globalen Entwicklung nicht annehmen wollen und sie vermutlich nicht einmal verstehen.

Die B-Ethik-Motivierten hingegen haben sich mit diesen globalen Herausforderungen auseinandergesetzt, oft auch aus ihrem Beruf heraus, und sind zu der Einschätzung gelangt, dass die privaten Schiffsmissionen einer humanen und zukunftsfähigen Bewältigung der Flucht- und Migrationsfragen nicht zuträglich sind, dass sie ihnen im Gegenteil schaden. Für diese Menschen sind die Handlungen von Carola Rackete nicht deshalb „schlecht“, weil sie sich persönlich durch sie gestört oder bedroht fühlen, sondern weil sie meinen, diese Handlungen wären einem anderen, gleichwertigen oder höheren Gut abträglich (es geht weiterhin nicht um die akute Nothilfe am Ort des Aufgreifens der boat people, sondern um die Handlungskette als Ganzes).

Die Ähnlichkeit der Aussagen von Nationalisten, „Rechten“ und so weiter auf der einen und von B-Ethikern, Verantwortungsethikern usw. auf der anderen Seite ist also nicht mehr als eine Koinzidenz. Und als solche muss sie auch behandelt werden. Nichts ist für unsere ethische Zivilisiertheit verhängnisvoller, als fälschlich den ethischen Sinn der verantwortlich Denkenden mit dem anti-ethischen Unsinn der Vulgären zu identifizieren. Diesem Reflex sollte man unbedingt widerstehen, auch wenn er so nahe zu liegen scheint.

Dilemma und Tragik
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Welche Ethiken haben dann aber recht? Die A-Ethiken oder die B-Ethiken? — Das, bin ich überzeugt, lässt sich nicht ohne weiteres sagen, und vermutlich lässt es sich überhaupt gar nicht sagen. Es kann sich höchstens im Laufe von Verhandlungen, die wiederum den Lauf der sich entwickelnden Ereignisse begleiten, Schritt für Schritt erweisen.

Ein einfaches „wahr oder falsch“ kann es schon deshalb nicht geben, weil die gesamte Flucht- und Migrationsthematik in ein moralisches Dilemma eingeschrieben ist. Und dieses Dilemma manifestiert sich exemplarisch am Widerspruch zwischen den Ethiken A und den Ethiken B beziehungsweise den ja- und nein-Urteilen, zu denen sie jeweils kommen.

Denn ja, natürlich ist es richtig und gut Menschen, die sich in Seenot befinden, zu retten. Andererseits nein, natürlich ist es nicht richtig und nicht gut, mit Verbrechern zu „kooperieren“, die Menschen auf untauglichen Schlauchbooten auf See hinausschicken, darauf kalkulierend, dass sie im sich mit grosser Wahrscheinlichkeit einstellenden Notfall von grösseren Schiffen aufgenommen werden. Und ja, natürlich ist es gut, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten in unseren sicheren Ländern aufzunehmen. Und nein, natürlich ist es nicht gut, die Sicherheit unserer Länder selbst in Gefahr zu bringen dadurch, dass Menschen mit verbrecherischen Intentionen unsere Gastfreundschaft missbrauchen oder dadurch, dass der gesellschaftliche Zusammenhang verlorengeht und in unseren Ländern ein innerer Bürgerkrieg entsteht. Und so weiter.

Es fällt ins Auge, dass gegen so gut wie jede der Aussagen des vorigen Absatzes der Einwand gemacht werden kann: „Aber so ist es doch gar nicht“. Zum Beispiel: Aber es ist doch gar nicht so, dass die Schiffe der privaten Missionen mit den kriminellen Schleppern kooperieren.

An diesen Stellen stösst die sachliche Diskussion an ihre Grenzen. Ob ein Akt der Kooperation mit den Schleppern vorliegt, ist irgendwann Ermessenssache. Man kann eine zeitlang die Sachverhalte klären, früher oder später wird man sich aber eingestehen müssen, dass es von übergeordneten Deutungsmustern abhängt, wie man die Frage nach „Kooperation oder nicht“ beurteilt. Und in diesem Fall sind die Deutungsmuster vor allem diejenige der verschiedenen Ethiken. Ethik A und Ethik B kommen zu verschiedenen Ergebnissen, obgleich sie beide Ethiken sind, und gleichermassen legitime Ethiken. Das ist unbequem für unser Denken, aber es ist die reale Lage, in der wir uns befinden.

Eine zivilisierte Diskussion über das Thema kann nur dann entstehen, wenn man anerkennt, dass es zum einen eine teilweise Immunität gegen sachliche Argumente mit sich bringt und zum anderen in ein grundlegendes ethisches Dilemma eingebettet ist. Ja, eigentlich müsste jeder, der sich überhaupt zu diesem Thema äussert, in irgendeiner Form seine Anerkenntnis dieses Dilemma-Zustands signalisieren. Denn dieses Dilemma ist der einzige gemeinsame Grund, auf dem wir in dieser Sache stehen.

All das erinnert in mancher Hinsicht an die Situation von Antigone und Kreon in Sophokles’ Tragödie: Beide haben recht, und beide haben ethisch recht. Antigone hat recht, weil sie ihren Bruder begraben will, denn er ist ihr Bruder: Das ist ihre persönliche Ethik, die zugleich als allgemein menschliche Ethik gelten kann. Aber auch Kreon hat recht, wenn er dieses Begräbnis verhindern will, denn die Gesetze des Staates verbieten es, einen Verräter ehrenhaft zu bestatten: Das ist die systemische Ethik, der Kreon anhängt, und auch sie beinhaltet einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Diese Sitten der Antike mögen uns heute fremd sein, und sowieso gilt unsere Sympathie vermutlich eher der menschlichen Antigone denn dem Tyrannen Kreon. Aber wenn wir das Stück von Sophokles mit entsprechenden Veränderungen in die Gegenwart transponieren, dann steht ebenfalls auf der einen Seite die personale Ethik, auf der anderen die systemische, und beide erheben Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, und beider Bewertungen, Denkfiguren, Handlungsanweisungen, Aussagen widersprechen einander auf die krasseste Art und Weise.

Die einen sagen A, die anderen B.

Und der Chor ist hin und her gerissen, schwankt zwischen den Optionen, und kann letztlich nur sagen: Eine nur gute Lösung gibt es nicht. Immer ist jede Option auch schlecht.

Das ist die Tragik, gestern wie heute.

Ethischer Chauvinismus
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Betrachtet man die derzeitige Diskussion, gerade in Deutschland, so kann man kaum zu einem anderen Schluss kommen als zu dem, dass die Ethik A, die „personennahe“ Ethik, allgemein als legitim und wertvoll anerkannt wird, die Ethik B hingegen, die „Systemethik“, im Ruch einer Anti-Ethik steht, einer moralischen Insensibilität, ja einer untergründigen „Schlechtheit“.

Nicht nur der — zumindest der Wahrnehmung nach — überwiegende Teil der Öffentlichkeit, auch Bundespräsident Steinmeier hat sich klar auf die Seite derer gestellt, die die Handlungen von Carola Rackete als moralisch gut einordnen, ja als vorbildhaft, und die Person selbst im weitesten Sinne als Heldin.

Dazu kommt, dass, wie oben beschrieben, eine Position der systemischen Ethik B, der Skepsis und des Bedenkens, der Verantwortungsethik, des Blicks aufs Ganze auf den ersten Blick leicht als „rechts“ diskreditiert werden kann — weil oberflächlich gesehen die Aussagen übereinzustimmen scheinen, auch wenn sie von ihrem Sinn her vollkommen auseinandergehen.

Diese Konstellation ist fatal für unseren demokratischen Diskurs, und sie ist auch in ethischer Hinsicht fatal. Sie tut dem Gutem einen Bärendienst.

Der Begriff Chauvinismus bezeichnet normalerweise eine Situation, in der sich eine Nation einer anderen überlegen fühlt und gegen die als unterlegen gedachten ein mobbing ausführt, im schlimmsten Falle einen Krieg beginnt. Chauvinismus ist Gewalt — zunächst symbolische. Ganz zurecht wurde der Begriff auch auf das Geschlechterverhältnis übertragen, in dem Sinne, dass in unseren Gesellschaften traditionell ein männlicher Chauvinismus gegenüber dem weiblichen Geschlecht existierte oder existiert.

Im Verhältnis von Ethiken zueinander, die ja alle einem Streben nach irgendeinem „Guten“ entspringen, sollte Chauvinismus eigentlich ausgeschlossen sein. Und dennoch kann man kaum zu einem anderen Eindruck kommen als zu dem, dass sich die Ethik A derzeit chauvinistisch gegenüber der Ethik B verhält.

Viele, sehr viele Vertreter der Ethik A sprechend denen der Ethik B ab, dass diese überhaupt ethisch denken und fühlen, dass ihrer Haltung überhaupt irgendeine ethische Legitimität zukommt. Dies folgt dem gleichen Modell, wie ein nationaler Chauvinismus anderen Nationen ihre Legitimität als Nation abspricht (viele Strömungen in Russland etwa den Ukrainern) oder der männliche Chauvinismus den Frauen ihre Legitimität als gleichberechtigte menschliche Wesen.

Dies ist ein scharfer Vergleich, sicher. Ich denke aber, dass er an dieser Stelle angebracht ist. Denn die Delegitimierung alternativer Ethiken, jedenfalls solange diese zu den historischen bewährten und systematisch gut begründeten Ethiken gehören, diskreditiert letztlich das Ethische selbst.



Oben hatte ich geschrieben: Seitdem es den Menschen gibt, versucht er, gut zu sein und das Richtige zu tun. Daran glaube ich. Es mag ein optimistischer Glaube sein, aber kein grundloser. Dass Menschen, zumindest von einer gewissen Bewusstseinsstufe ab, gut sein wollen, zeigen Studien der Entwicklung von Kleinkindern genauso wie Soziologie und Psychologie, die den Stellenwert des Moralischen für die persönliche Integrität betonen. Und nicht zuletzt zeigt das auch die alltägliche Erfahrung. Jeder will sich im Spiegel ins Gesicht sehen können.

Sicher, es gibt Perversionen des Guten, es gibt Ethiken, oder hier muss man wirklich besser sagen: Moralen, in denen das Böse gut und das Gute böse erscheint. Die persönliche Integrität eines Verbrechers kann es — scheinbar — erfordern, dass er anderen Menschen schadet, ja dass er andere Menschen tötet. Es sind Kulturen vorstellbar, in denen unmenschliches Verhalten als ethisch unbedenklich oder gar legitim angesehen wird — man denke an Kannibalismus oder Kindstötungen. Ebenso, wie ein Rechtssystem unter gewissen Umständen zu einem Unrechtsystem werden kann, kann ein Moralsystem zu einem Unmoralsystem werden.

Aber diese Umstände liegen hier nicht vor. Wer aus Antrieben einer Ethik B, also aus systemethischen oder verantwortungsethischen Antrieben, gegen die Handlungen von Carola Rackete ist, der oder die ist weder ein Verbrecher noch ein moralischer Idiot. Er ist nur ethisch vollkommen anders orientiert, „anders aufgestellt“ als diejenigen, die von einer Ethik A motiviert werden, von einer Pflicht- oder Tugendethik.

Daher sollte solch ein ethischer Chauvinismus keinen Platz in unseren Diskussionen haben. Ja, es sollte geradezu verpönt sein, den Vertreter einer anderen legitimen Ethik, der zu anderen moralischen Schlussfolgerungen kommt als man selbst, implizit oder explizit als moralisch minderwertig zu brandmarken. Und es sollte im Grunde sogar verpönt sein, seine eigene moralische Position, die in diesem konkreten Fall fast immer eine Position des ethischen Typs A ist, allzu selbstsicher, womöglich gar auftrumpfend vor sich herzutragen. Denn es gibt keine ethische Position, die sich dem ethischen Dilemma der derzeitigen Situation entziehen könnte, keine Position also, die nicht Grund hätte, sich ihrer Angreifbarkeit und ihrer nur teilweisen Wahrheit bewusst zu sein.

Jemand, der dies aus dem Blick verliert, stellt im Grunde seine eigene ethische Urteilskompetenz in Frage. Denn Eindeutigkeiten, die eine solche selbstsichere Haltung rechtfertigen könnten, gibt es in dieser konkreten Situation nicht. Vom Guten oder vom Bösen reden (oder es denken) kann man daher hier immer nur gebrochen, dem offensichtlichen Dilemma trotzend, gewissermassen zerknirscht. Und das ist selbst wiederum natürlich eine ethische Forderung. Oder eine Forderung der ethischen Ethik, der Ethik der Ethik.

Ethik der Ethik
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Ethik oder Ethik der Ethik? Die Ebenen hier voneinander scharf zu trennen ist kaum machbar.

So, wie Handeln nicht möglich ist, ohne über das Handeln nachzudenken, wie Kunst nicht möglich ist, ohne über die Kunst nachzudenken, so ist auch Ethik nicht möglich, ohne über die Ethik nachzudenken.

Früher einmal mag das anders gewesen sein. Irgendwann einmal mag es Handeln ohne Bedenken, unmittelbare, ihrer selbst nicht bewusste Kunst, Ethik ohne Reflexion über das Ethische gegeben haben.

Aber wir sind keine Urmenschen mehr, die springende Gazellen in Höhlenwände ritzen. Das Bewusstsein des Menschen entwickelt sich, sowohl das der Art (der Gesellschaft) wie auch das der Einzelnen. Ob diese Entwicklung immer in Richtung eines „Höheren“ führt, das sei dahingestellt. Aber als denkenden Menschen bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als uns immer wieder um das Einnehmen der übergeordneten, einordnenden Standpunkte zu bemühen, die dann ihrerseits wieder höher liegende Ebenen eröffnen.

Heute jedenfalls ist Handeln auch immer bewusstes Handeln (Denken über Handeln), Kunst immer auch Meta-Kunst, und auch Ethik weiss (oder muss wissen), dass sie sich im spannungsreichen, konfliktgeladenen, oft selbstwidersprüchlichen Bereich verschiedener Ethiken und verschiedener moralischer Optionen abspielt. Nur sagen zu wollen: So ist es gut, so ist es richtig, ohne mögliche Gegenteile mitzudenken, wäre heute einfach nur naiv.

Nun ist es natürlich praktisch kaum umsetzbar, sämtliche Ethik-Modelle in einem Kopf — in einer Seele — ablaufen zu lassen, oder auch nur eine grössere Zahl von ihnen. Und was sollte auch dabei herauskommen?

Sicher, jeder kennt eben die ethischen Konflikte, die sich daraus ergeben, dass man einerseits einer ethischen Überzeugung (einer „Tugend“) folgen will, andererseits sich fragt, ob die Folgen des entsprechenden Handelns dann nicht möglicherweise irgendein gewichtiges Übel mit sich bringen könnten. Diese Art von inneren Konflikten ist so verbreitet, dass sie sogar in Sprichwörtern und geflügelten Formeln Niederschlag gefunden hat, etwa in dem, es seien möglicherweise gerade die guten Vorsätze, welche den Weg zu Hölle pflastern, oder einem anderen, das sagt: Gerechtigkeit geschehe, und sollte die Welt darüber zugrunde gehen.

Aber da wir eh nicht alle Ethiken zugleich leben können, ist die Versuchung gross, dem Drang nach ethischer Konsistenz nachzugeben und alternative ethische Denkfiguren gleich ganz auszublenden. Man kommt dann dazu, die ethische Ambiguität der Wirklichkeit zu reduzieren und sich zu sagen: Dies, nur dies ist nun wirklich das Gute, und jenes andere, was dem widerspricht und sich ebenfalls als Gutes geriert, ist eben in Wirklichkeit keins.

Und eben diese Reduktion wird der vom Dilemma geprägten Realität nicht gerecht. Daher möchte ich einen anderen Vorschlag machen, wie man im zerklüfteten, gleichsam ständig tektonisch fliessenden, von unvorhersehbaren Umwälzungen bedrohten Territorium des Ethischen einen Nagel einschlagen kann, der zumindest einen gewissen Halt zu bieten verspricht. Allerdings werden Platz und Zeit hier nur für einige Andeutungen reichen.

Der Vorschlag lautet, als Fixpunkt in diesem unzuverlässigen und hochperspektivischen Territorium die Formel zu verwenden: Gut ist, sich zu fragen, was gut ist. Dies Formel ist — in meiner ethischen Vorstellungswelt — das sine qua non des ethischen Urteilens, sie ist geradezu die Voraussetzung, ohne die Ethik heute überhaupt gar keine Ethik sein kann.

Gut ist, sich zu fragen, was gut ist
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Gut ist, sich zu fragen, was gut ist — das heisst zum einen auf einer unteren, fast ans Banale grenzenden Stufe, dass derjenige, der die ethische Dimension einer Frage für sich gar nicht erst thematisiert, grundsätzlich keinen Anspruch darauf erheben kann, dass er in ethischer Hinsicht gehört wird: Er ist gewissermassen nicht Bürger der ethischen Republik.

Das würde zutreffen auf den vulgären Nationalisten, Xenophoben etc., von dem oben die Rede war: Er fragt sich eben gar nicht erst, was gut ist. Er will das, warum es geht, schlichtweg nicht, aus persönlichen, meist egoistischen, von irgendwoher übernommenen Motiven — und basta. Wir dürfen ihn tatsächlich aus der ethischen Debatte ausschliessen, und wenn er selbst versuchen sollte, seiner Vulgarität das Deckmäntelchen des Moralischen umzuhängen, dann haben wir das Recht und die Pflicht, es ihm abzureissen.

Ebenso wäre es möglich, die Formel in diesem Sinne auf die Handlungen von Politikern und sogar von Regierungen anzuwenden — als eine Prüfformel.

Wird von diesen Personen oder Institutionen die ethische Dimension eines Handelns, etwa bei Überlegungen zu einem Militäreinsatz, überhaupt thematisiert? Oder geht es nur um eine Kosten-Nutzen-Rechnung, bei der die persönlichen Schicksale von Soldaten und Zivilisten einzig und allein unter PR-Gesichtspunkten eine Rolle spielen? Diese Fragen drängen sich auf beim Handeln aussenpolitisch besonders aktiver Mächte, wie Russland oder auch den USA, aber nicht nur bei ihnen.

Das soll natürlich nicht heissen, dass die ethische Dimension die einzige ist, die im politischen Handeln eine Rolle spielen sollte. Aber wenn eine Politik gar nicht erst fragt, „was gut ist“, untergräbt sie einen Gutteil ihrer Legitimität.

Wirklich relevant wird die Formel Gut ist, sich zu fragen, was gut ist aber dort, wo Menschen tatsächlich auf dem Wege ethischen Denkens und Abwägens zu ihren Positionen gelangt sind. Und so wird es bei allen ernstzunehmenden Positionen zur Frage der Sea-Watch 3 und der Kapitänin Carola Rackete der Fall sein — unabhängig davon, ob sie eher der Ethik A oder der Ethik B zuzuzählen sind und ob diese Menschen zu einer positiven oder negativen ethischen Bewertung des Falles kommen.

Nehmen wir an, ich habe diesbezüglich eine klare ethische Überzeugung, ich halte diese Handlungen entweder für gut oder für schlecht— und zwar aus ethischen Gründen, aus Gründen, die sich entweder von der Ethik A oder von der Ethik B ableiten. Ich halte also entweder Carola Rackete — immer zugespitzt gesagt — für eine Heldin, weil sie gehandelt hat, wie ein Mensch handeln muss (-> Antigone); oder ich halte sie für einen Störenfried, für eine Anti-Heldin, weil mit den Schleppern „kollaboriert“, den fragilen, sensiblen Prozess des europäischen Umgangs mit der Flucht- und Migrationsfrage einer unnötigen Gefahr ausgesetzt hat und so weiter (-> Kreon).

Ich bin dann ein Bürger der Republik des Ethischen und habe damit auch das Recht darauf, in ethischen Debatten gehört und berücksichtigt zu werden — egal, ob meine Position „pro“ oder „contra“ ist (immer vorausgesetzt, es handelt sich nicht um eine nur ethisch bemäntelte vulgär-egoistische Position).

Damit scheinen auch die Grundlagen für eine ethische Debatte in dieser Republik des Ethischen geschaffen zu sein — und dennoch wird die Debatte in den allermeisten Fällen noch nicht funktionieren. Denn ich glaube zwar zu wissen, was gut ist, aber ich stelle mir noch nicht die Frage, was gut ist. Ich habe gewissermassen die Antwort, bevor ich die Frage habe, die selbst wiederum auf ihre Weise eine Antwort darstellt.

Erst in dem Augenblick, da ich mich — glaubend, bereits zu wissen, was gut ist — noch einmal frage, was gut ist, kann sich ein echter Zweifel an der Alleingültigkeit meiner ethischen Position einstellen. Erst dann kann ich in Betracht ziehen, dass die Position meines Gegners, die ich bisher, da sie ja meiner eigenen, ethischen, widerspricht, als un-ethische oder anti-ethische wahrgenommen habe, ebenfalls eine ethische Position sein könnte.

Und erst von diesem Augenblick an können wir miteinander reden.

Und erst von diesem Augenblick an können wir auch, ohne unseren Dissens aufzulösen, zum gemeinsamen Bewusstsein des Dilemmas vorstossen, in dem wir uns befinden.

Und erst von diesem Augenblick an schliesslich können wir auch die Hoffnung haben, dass unsere ethische Debatte zu einem produktiven Disput oder zu einer tragfähigen politischen Entscheidung führt.

Tragfähig wäre eine Entscheidung dann, wenn diejenige Partei, deren Standpunkt nicht verwirklicht wird, weiss, dass dieser dennoch in der Entscheidung aufgehoben ist: Denn die Entscheidung wurde aus dem Bewusstsein des Dilemmas heraus gefällt, so dass klar ist, dass es ein eindeutiges, widerspruchsfreies gut oder schlecht, wahr oder falsch, richtig oder unrichtig gar nicht geben kann.

Die sprachliche Figur des Fragens, denkt man ja, ist dafür da, einer Unsicherheit Ausdruck zu verleihen. Hier ist es umgekehrt: Hier sorgt gerade die permanente Frage dafür, dass das Ethische, ohne seine Ambivalenzen auszublenden, in einer inneren Spannung mit sich selbst zur Ruhe kommt.

Doch wie gesagt: Dieser letzte Punkt würde wesentlich mehr Platz zur Entwicklung brauchen, als ein solcher skizzenhafter Post erlaubt. Aber eigentlich ging es ja auch gar nicht um diesen Lösungsvorschlag, sondern um das Problem selbst: um die Konstellation der alternativen oder parallelen Ethiken (so hätte man es auch nennen können!) und darum, dass sie mehr Aufmerksamkeit verdient.



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