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Strahlenkur mit Gulag

Krasse kognitive Dissonanzen …
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… erklingen gleich hinter den nächsten Bergen.

Zufällig fuhr ich vor einigen Jahren durch einen Ort, der ausserhalb jeder Landkarte zu liegen schien. Die Eindrücke durchs Autofenster wollten sich einfach nicht zusammensetzen: verfallene Häuser, ein Palasthotel, ein Förderturm, Radioaktivität. Das vergangene lange Wochenende konnte ich nun alles in Ruhe erkunden.

Aber das Silbererz erschöpfte sich, hinter ihm lag ein mattschwarzer Stein, mit dem man nichts anfangen konnte — „Pechblende“ wurde er genannt und auf Halden gekippt. Pech gehabt.

Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte man, dass sich auch daraus Nützliches machen liess, nämlich bunte Uranfarben für Glas und Keramik. Pechblende ist ein Uranoxid. Marie Curie liess sich eine ganze Tonne Pechblende aus Joachimsthal nach Paris fahren, um daran die sogenannte „Becquerel-Strahlung“, die Radioaktivität, zu studieren. Und hier beginnt allmählich die mentale Explosion, die Jáchymov ausmacht.

Pierre und Marie Curie entdeckten zwei neue Elemente, Zerfallsprodukte von Uran: Radium und ein anderes (welches, habe ich gerade vergessen), dazu das Edelgas Radon, ein Zerfallsprodukt wiederum des Radiums, und damit wesentliche Schritte der Uran-Radium-Reihe. Pierre Curie geriet unter ein Pferdefuhrwerk, brach sich den Schädel und starb. Marie Curie bekam zwei Nobelpreise (zuvor Pierre einen halben), erkrankte an Strahlenkrebs und starb, aber das erwähne ich nur, weil es zur dunklen Note dieser Geschichte gehört.

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es einen Boom bei der Strahlenbehandlung (dieses Wort — Boom — erscheint mir jetzt, da ich es schreibe, zweideutig). Strahlen halfen nicht nur bei manchen Hauterkrankungen (vermutlich, weil sie die kranke Haut zum Absterben brachten), sondern man entdeckte auch, dass alte Heilquellen wie die von Bad Gastein radioaktiv sind. Alle wollten nun strahlendes Wasser, und solches gab es in Jáchymov: die Grubenabwässer der alten Silber- bzw. Urangruben. Sie umspülten das zerfallende Uran und enthielten daher Radon. 1906 begann der Kurbetrieb, 1912 wurde das Hotel Radium Palace eröffnet. Die Patienten konnten nun in strahlendem Wasser baden, was nicht nur gegen Haut-, sondern auch gegen Gelenkleiden helfen sollte. Soll. Das friedliche Atom und seine Hoffnungen!

„Boom“ erscheint mir zweideutig, weil es auch auf die Explosion einer Bombe passt, zum Beispiel einer Atombombe.

Mit dem Münchner Abkommen 1938 verleibte sich das Nationalsozialistische Deutschland Joachimsthal ein, 1945 mussten die Deutschböhmen, die 90% der Bevölkerung ausmachten, Tschechien verlassen (Beneš-Dekret).

Die Amerikaner hatten die Atombombe, Stalin brauchte sie auch. In der Sowjetunion gab es keine Lagerstätten für Uran. Das kam aus dem Erzgebirge: aus dem sächsischen Teil (die „Wismut“ der DDR) und aus dem tschechischen — aus Jachymov. Dort waren die Voraussetzungen perfekt, denn es gab nicht nur Uran, sondern auch Arbeiter: erst Kriegsgefangene, dann politische Gefangene. Für die baute man ein Lager, in dem sie von 1951 bis 1956 (nach anderen Angaben von 1948 bis 1961) Zwangsarbeit leisteten: genannt Jáchymovské peklo, die Jáchymover Hölle. 100.000 Häftlinge haben dort geschuftet, Tausende sind dort gestorben. Es gibt einen romantischen Waldlehrpfad dazu, der fast bis an das Skigebiet von Boží Dar heranführt, des Ortes mit dem sprechenden Namen Gottesgab. Ich bekomme es auch jetzt schlecht zusammengedacht.

Das heisst, es soll diesen Pfad geben, wir haben nicht recht verstanden, wo. Überhaupt findet man vor Ort wenig Informationen zum Lager. Sie würden auch zu einer Dissonanz mit dem Badebetrieb führen. Auf Reklametafeln in den Sanatorien wird geworben für Ausflüge nach Karlsbad und Führungen durch das Heimatmuseum, das die Geschichte des Joachimsthalers erzählt, also des Talers, also des Dollars. Lager: Hier ist ein Zeitzeugenbericht.

In dem geht es auch um den „Roten Turm“ im Ort unterhalb von Jáchymov. Dort mussten die Häftlinge mit blossen Händen das Uranerz für den Transport in die Sowjetunion zerkleinern, Uranaufbereitungsanlage nennt man sowas heute. Das hat wohl kaum jemand lange überlebt. Fährt man dorthin, so gibt es einen Wegweiser: „Museum — Roter Turm des Todes“. Auf dem Gelände neben dem Tor steht ein verlassen aussehender Wohnwagen. Ein junger Mann kommt heraus und sagt: Kein Zutritt, und das Museum sei wohl geschlossen, er wisse nicht.

Verlassen, verfallen: So scheint es auch dem grösseren Teil Jáchymovs während des Sozialismus gegangen zu sein (der Badebetrieb ging aber weiter, in den 70er Jahren kamen riesige Plattenbau-Sanatorien hinzu). Geht man heute durch die obere Stadt, so schwebt dem Russischkundigen der unfein-verheissungsvolle Ausdruck „Estetika Jebenej“ in den Mund. Ich habe ein paar prächtige Fassaden fotografiert, die an Italien erinnern.

Liegt man in diesen Radon-Heilwannen (Test siehe Fotos), so fragt man sich, ob man ein besonderes Prickeln auf der Haut verspürt. Wegen der ionisierenden Strahlung (sie soll das Verhalten des Immunsystems beeinflussen — tatsächlich nicht ganz ausgeschlossen. Stichwort: Strahlenhormesis). Oder wegen der miteinander unverträglichen Gedanken, die aus dem Radondampf des warmen Wassers aufsteigen. Ich bade in den Abwässern der Silbergrube. Der Urangrube. In der die Häftlinge zu Tode geschunden wurden. Aus deren Abraum die sowjetische Atombombe entstand. An deren Abraum von Pierre und Marie Curie die Radioaktivität entdeckt wurde. Deren Strahlung geradezu erlöserische Hoffnung weckte. An deren Strahlung die Erforscherin starb. Wegen derer Menschen, teils sehr alte, gekrümmte, verbogene, die sich mit Mühe an ihren Krücken durch den Kurort schleppen, immer noch nach Jáchymov pilgern, um ein paar Wochen in einem Sanatorium zu baden.

Und wirklich, es ist angenehm dort. Gute Luft. Schöne Landschaft. Freundliche Leute. Gutes Essen.

Und ja, das andere Zerfallsprodukt des Urans ist Polonium. Kennt man doch eigentlich auch irgendwie.



Fotos
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Abteilung eins: Radium
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Abteilung zwei: Bäder
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Abteilung drei: Lager
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Abteilung vier: Estetika Jebenej
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(Die Ästhetik, sagen wir es ohne unfeine Sprache: des Verfalls)

Abteilung fünf: Miscellaneous & Kurios
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