„Open borders“ für alle oder „Festung Europa“, die kaum jemand hereinlässt? Beides sind Extrempositionen, die kaum einmal in Reinform vertreten werden. Doch selbst, wenn man moderater denkt, kommt man zum Schluss: Europas Haltung zur Migration steckt in einem Dilemma. Und zwar nicht nur in politischer, sondern vor allem auch in ethischer Hinsicht. Das zeigt nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um Sea–Watch 3 und Kapitänin Carola Rackete. Voraussetzung für eine aufrichtige Debatte ist die Anerkenntnis aller Seiten: Eine nur gute Lösung gibt es nicht.
Mein Essay zum ethischen Dilemma von Flucht und Migration auf ZEIT online (11. Juli 2019) kann hier nachgelesen werden. Er basiert auf diesem Blogpost vom 2. Juli, arbeitet dessen Kerngedanken systematischer aus und ergänzt sie um einen Abschnitt zu den Menschenrechten – hier noch einmal gesondert aufgeführt.
Spannungsfeld Menschenrechte
Die gesamte Debatte um Rettung und Migration steht und fällt mit dem Konzept der Menschenrechte. Die A-Ethiken setzen die Menschenrechte absolut: Von ihnen geht ein unbedingtes Gebot aus, sie verpflichten zum einen zum proaktiven Retten, zum anderen zum Ausgleich der globalen Ungerechtigkeiten an Wohlstand und Lebenschancen.
Was die B-Ethiker betrifft, kann es den Anschein haben, dass sie die Menschenrechte relativieren oder gar für nebensächlich erachten, was sie ins moralische Abseits stellen würde. Dieser Vorwurf wäre allerdings übereilt. B-Ethiker sind sich, zumindest wenn sie ein wenig tiefer in die Materie eingedrungen sind, der Problematiken bewusst, die mit dem Konzept der Menschenrechte einhergehen. Wenn wir allen Menschen gleiche Rechte verschaffen wollen, warum sollten dann die, denen wir Zugang zu Europa eröffnen, bevorzugt werden gegenüber den Daheimgebliebenen? Das Herstellen der einen Gerechtigkeit schafft sogleich neue Ungerechtigkeiten. Und wäre nicht den unzähligen Frauen Afrikas, die bei der Geburt oder im Kindbett sterben, nach menschenrechtlichen Kriterien mindestens ebenso Hilfe zu leisten wie jenen Menschen, die sich aus eigenem Entschluss auf ein seeuntüchtiges Schiff begeben? Wenn man den Universalitätsanspruch der Menschenrechte ernst nimmt, dann müsste man allen helfen – und allen sofort.
Man kann die Menschenrechte als eine säkularisierte Form der Gottesebenbildlichkeit verstehen. Oft ist auch ihre Entstehung so rekonstruiert worden: Gott hat die Menschen geschaffen nach seinem Bilde, damit ist ein Teil der Heiligkeit Gottes in jedem Menschen aufgehoben, diese Heiligkeit verleiht ihm unantastbare Würde, diese Würde ist, positiv formuliert, sein Menschen-Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Eigentum, faire Gerichtsverfahren. Über die gesamte Aufklärung hinweg lässt sich diese Übersetzung von religiösen Wertvorstellungen in weltliche beobachten – ebenso wie deren anschließende systematisierende Weiterentwicklung.
Die Menschenrechte beim Wort zu nehmen, heißt, einen gewaltigen Auftrag zu übernehmen. Sie zwingen uns geradezu in eine Heilsgeschichte hinein – aber nun, im Unterschied zur Vormoderne, in eine weltliche, die wir selbst gestalten müssen und von der nicht klar ist, ob und wie wir ihr gewachsen sind.
Die Denker der Aufklärung und der Moderne, die die Menschenrechte schrittweise immer weiter ausformuliert haben, haben damit eine Sprengladung verfertigt von viel größerer Gewalt, als ihnen vielleicht selbst klar gewesen sein mag. Würde sie mit einem Mal in ihrer Ganzheit gezündet, so müsste sie alle bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen auf unserem Planeten zunichtemachen. Stück für Stück in Brand gesetzt, sind die Menschenrechte aber der wohl wirkungsvollste Treibsatz einer Geschichte, die den Menschen überhaupt erst vollsinnig zum Menschen macht.
Können wir dieses Spiel mit dem Feuer meistern, können wir die Tragik aushalten, die unweigerlich mit ihm einhergeht? Derzeit stellen sich diese Fragen rund um das Mittelmeer.
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