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Re-imagine Evolution!

Vor unseren Augen entsteht ein neues biologisches Weltbild. Doch die Evolution ist noch lange nicht entschlüsselt.

Dieser Text präsentiert knapp und verständlich neue und wenig bekannte Ergebnisse der Evolutionsforschung und zeichnet aus ihnen ein grösseres Gesamtbild. Vieles davon passt nicht mit den allgemein verbreiteten Vorstellung der Evolution zusammen. Aber ich promote hier keine kruden neuen „Theorien“: Alles, was ich beschreibe, sind anerkannte wissenschaftliche Forschungsergebnisse oder die Hypothesen anerkannter Forscher. Hier ein paar Stichworte, worum es geht:

  • die Linien im „Stammbaum“ der Evolution verzweigen sich nicht nur, sie fliessen auch zusammen, in manchen Bereichen mehr, in anderen weniger: aus zwei mach eins. Damit ist der Stammbaum gar nicht nur ein Baum.
  • in der eukaryotischen Zelle (der Zelle aller höheren Lebewesen) sind verschiedene andere Zellen ineinandergestapelt wie in einer russischen Puppe. Und vielleicht sind höhere Organismus auch noch auf viel grundlegendere Weise aus anderen zusammengesetzt — ein lebendiges Mosaik.
  • „Konkurrenz“ und survival of the fittest sind in der Evolution nur ein Prinzip neben anderen. Miteinander ist genauso wichtig wie Gegeneinander.

Ausserdem geht es in diesem Text um schmuggelnde Viren und die Harpunen von Nesseltieren, um Leukozyten und Neuronen, um russische Symbiogenetiker und einen fiesen bengalischen Feigenbaum.

Aber ich skizziere nicht nur Forschungsergebnisse, sondern zeige auch, wie die Biologie mit unserem Realitätsverständnis als Ganzem zusammenhängt und welche Veränderungen möglicherweise in Zukunft auf uns zukommen. Das einschätzen zu können, ist wichtig: Schliesslich sind wir alle selbst lebendig und damit Teil der Evolution.



Oft ist ja alles ziemlich anders als man denkt. Das gilt auch fürs Leben, das heisst fürs Lebendige, fürs Biologische — also für all die Bäume und Gräser und Vögel und Würmer und Bakterien um uns herum und natürlich auch für uns selbst.

Man denkt ja meist, alle Lebewesen haben sich irgendwie auf geradem Wege auseinander hervormodifiziert, auf Linien mit Abzweigungen nach links und rechts: die Vögel aus den Sauriern, die Menschen aus den Affen (grob gesagt), die Pflanzen aus den Algen und alles irgendwann einmal aus einer Urzelle oder aus mehreren. Versucht man, sich das im Ganzen vorzustellen, so erscheint vor dem inneren Auge ein Baum. Eine stämmige, knorrige Eiche, die sich in Äste aufgabelt für die verschiedenen Arten, und irgendwo ganz oben hocken wir selbst, der Mensch.

Eine Struktur in dieser Art hat man wohl unweigerlich vor Augen, wenn man das Wort „Evolution“ hört.

Und fragt man sich dann, was diesen Baum zum Spriessen und zum Wachsen bringt, so ist man, noch ehe die Frage überhaupt zuendegedacht ist, beim Kampf ums Dasein, beim survival of the fittest, beim ganzen wohlvertrauten Konkurrenz-Gedanken und natürlich bei Mutation und Selektion. Man ist also bei Darwins Theorien. Genauer: bei ihren modernen Verfeinerungen — Darwin konnte ja von Mutation noch nichts wissen — und deren etwas holzschnittartiger Grobversion. Aber wenn man versucht, sich etwas so Kompliziertes wie die Evolution im Ganzen vorzustellen, dann wird es eben immer etwas grobkörnig.

Und man liegt ja mit diesen Vorstellungen in vieler Hinsicht auch ganz richtig. Denn all das — Mutation und Selektion, verzweigte Artenlinien, Konkurrenz — spielt mit Sicherheit eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der biologischen Arten.

Fundamente des (Neo-)Darwinismus: Konkurrenz, Mutation-Selektion und ein sich verzweigender Artenbaum

Aber in anderer Hinsicht liegt man eben auch ziemlich falsch. Denn so einiges, das zeigt die jüngere Forschung, ist in der Evolution grundlegend anders, als es das Darwin-inspirierte Grossbild nahelegt.

Darwins berühmte Handzeichnung eines Baumschemas der Evolution aus seinem Notizbuch von 1837: „I think“. Sein Hauptwerk „On the Origin of Species“ erschien mehr als 20 Jahre später, 1859.

Hatte man diesen Verdacht nicht schon immer? Sich vorstellen zu müssen, dass alles, was ich täglich erlebe an Lebendigem — der denkende Ameisenstaat, die Orchidee, die ihre Bestäuber trickreich an der Nase herumführt, ein Apfel, mein Hirn — allein durch eine genetische Lotterie in den Keimzellen der Lebewesen selbst zustandegekommen sein soll, ist schon sehr viel verlangt. Auch wenn in fast vier Milliarden Jahren — so lange, vermutet man, gibt es Leben auf der Erde — sicher eine Menge geschehen kann.

1. Zusammen-Werden
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Der sich verzweigende Arten-Baum: In der Evolution der Zellen zum Beispiel gibt es gar keinen. Oder genauer: Es gibt im Stammbaum der Zellen nicht nur Gabelungen, sondern es wachsen dort auch Äste ineinander. Und das ist für ihre Evolution viel entscheidender.

Zwei Zelltypen
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Zellen existieren in zwei verschiedenen Sorten: Es gibt Zellen ohne Kern und Zellen mit Kern, prokaryotische und eukaryotische Zellen. Karyon ist auf griechisch der Kern, es sind also „vor-Kern-Zellen“ und Zellen mit „gutem“ (eu-), „echtem“ Kern. Der Kern ist bei den eukaryotischen Zellen der Ort, in dem sich die DNA befindet — bei den prokaryotischen Zellen ist sie frei im Zellplasma enthalten.

Aus eukaryotischen Zellen sind alle höheren Lebewesen aufgebaut, natürlich auch wir selbst. Die prokaryotischen Zellen sind die Zellen der Bakterien (und der sogenannten Archeen, einer Paralleldomäne zu den Bakterien).

Ausser der Frage „mit Kern oder ohne?“ gibt es noch mehr Unterschiede zwischen den beiden Zellarten. Die eukaryotischen Zellen sind komplizierter aufgebaut und grösser, vor allem aber findet sich in ihrem Inneren etwas, das bei prokaryotischen Zellen grundsätzlich nicht existiert: Eukaryotische Zellen haben Mitochondrien und, wenn es pflanzliche Zellen sind, auch Chloroplasten.

Wo kommen die Mitochondrien und Chloroplasten her?

Beides — Chloroplasten und Mitochondrien — sind kleine ovale Körperchen im Zellplasma, die der Energieerzeugung dienen. Chloroplasten, in denen sich das grüne Chlorophyll befindet, können wir jeden Tag in geradezu astronomischer Anzahl dabei beobachten, wie sie bei der Photosynthese Sonnenlicht in chemische Energie verwandeln. In den Mitochondrien werden Zucker unter Verwendung von Sauerstoff in den Energieträger ATP verstoffwechselt, der für so gut wie alle Lebensprozesse in der Zelle notwendig ist. Mitochondrien und Chloroplasten sind für die eukaryotische Zelle nicht weniger essentiell als für uns selbst Magen oder Darm.

Lange Zeit dachte man, die eukaroytischen Zellen seien eine Weiterentwicklung der prokaryotischen — also einfach ein Stückchen weiter aussen oder oben auf dem gleichen Evolutionsast angesiedelt. Mitochondrien und Chloroplasten, nahm man an, habe die Zelle selbst im Laufe der Evolution herausgebildet: etwa dadurch, dass sich die Zellmembran nach innen zu einer Art Säckchen einstülpte, in denen dann die entsprechenden biochemischen Vorgänge ablaufen konnten.

Das allerdings, so weiss man heute, stimmt nicht. Weder Mitochondrien noch Chloroplasten gehören überhaupt eigentlich zur Zelle dazu. Sie sind von aussen hinzugekommen. Sie waren selbst einmal einzelne, unabhängige Lebewesen, nämlich Bakterien, also prokaryotische Zellen.

Dauergäste in unseren Zellen
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Die Geschichte verlief ungefähr so. Zu einem frühen Zeitpunkt in der Evolution, vor ca. 1,5 bis 2 Milliarden Jahren, sind die Vorläufer der heutigen Mitochondrien und Chloroplasten — damals noch selbständige Bakterien — im Urozean in Kontakt gekommen mit den Vorgängern der heutigen eukaryotischen Zellen. Diese Vor-Chloroplasten und Vor-Mitchondrien dienten der Vor-eukaryotischen Zelle vermutlich sogar eigentlich als Nahrung. Allerdings ist die Mahlzeit in manchen Fällen wohl nicht vollständig vollzogen worden.

Die Bakterien fanden im Zellplasma ihres verhinderten Verspeisers einen Ort für ein geschütztes Leben, während die umhüllende Zelle sich neue Energiequellen erschloss: Der Vor-Chloroplast zum Beispiel produzierte weiterhin Energie aus dem Sonnenlicht, auch im Inneren der fremden Zelle. Diese Zusammenarbeit funktionierte offenbar gut. Die Partner sind bis heute zusammengeblieben, die ehemalige Beute wurde zu einem festen funktionalen Bestandteil der Zelle — zu einem Zell-Organell.

Eukaryotische Zellen, Mitochondrien und Chloroplasten sind nach Art einer Matrjoschka ineinander verschachtelt

Details der damaligen Vorgänge können wir zwar nicht rekonstruieren, wir wissen aber aufgrund genetischer Untersuchungen mit Sicherheit, dass eine solche Fusion stattgefunden hat. Sowohl Mitochondrien wie auch Chloroplasten besitzen nämlich eigene, vom Zellkern unabhängige DNA — und die ist, wie wir heute nachweisen können, bakteriellen Ursprungs.

Die allgegenwärtige tierisch-pflanzliche Zelle, die eukaryotische Zelle, ist also eigentlich gar nicht ein Organismus, sondern viele. Man kann sie sich nach Art einer russischen Puppe vorstellen, einer Matrjoschka: Aussen befindet sich das, was wir heute als die eigentliche Zelle ansehen, im Inneren leben ehemalige Bakterien — ebenfalls Zellen.

Ohne die Entwicklung der eukaryotischen Zelle wäre das Leben heute noch immer ein bakterieller Glibber

Würden wir uns mit einer sehr starken Lupe unserer Haut nähern, so würden wir sehen, wie dort die äusseren Hüllen oder Figuren solcher Matrjoschki dicht an dicht zusammenliegen, und wie sich in deren Inneren jeweils wieder zahlreiche andere, halb-autonome Zellen tummeln. Und so ist es nicht nur in der Haut, sondern in jedem beliebigen anderen unserer Gewebe, bei jeder einzelnen der 100.000 Milliarden Zellen unseres Körpers und aller mehrzelligen eukaryotischen Lebewesen auf unserem Planeten.

In unseren Geweben liegen die Zell-Matrjoschki dicht aneinander, in ihrem Inneren tummeln sich zahlreiche andere, halb-autonome Zellen.

Und dieser uralte Verschmelzungs-Vorgang war nicht irgendeine beliebige, unbedeutende Episode aus der grauen Vorzeit der Evolution. Er war eines ihrer Schlüsselereignisse: Ohne die eukaryotische Zelle mit ihrer inneren Aufgabenteilung, mit der Vielfalt ihrer durch Kombination der ehemaligen Partner entstandenen Stoffwechselwege, mit ihrer relativen genetischen Stabilität hätten sich wohl kaum höhere Organismen auf unserem Planeten entwicklen können, und das Leben wäre noch heute ein einziger bakterieller Glibber.

Was hier geschah, das war — nach der Entstehung des Lebens selbst — der zweite Urknall der Evolution. Und er geschah auf dem Weg einer Fusion.

2. Symbiogenese vs. Darwinismus
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Russische Symbiogenetiker
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Man weiss das alles noch nicht lange. Das heisst: Man wusste es eigentlich früher schon einmal. Russische Forscher — Andrej Faminzyn, Konstantin Mereshkowski, Boris Koso-Poljanski — waren schon vor über hundert Jahren auf die Idee gekommen, dass die Chloroplasten und vielleicht auch die Mitochondrien äussere Dauergäste in den eukaryotischen Zellen sein könnten. Mereshkowski hat darüber 1905 und 1909 zwei brillante Untersuchungen veröffentlicht und in ihnen auch den Ausdruck geprägt, den man auch heute noch für solche biologischen Fusionsvorgänge verwendet: Symbiogenese, also: Zusammen-Werden.

Konstantin Mereshkowski, Entdecker der Symbiogenese. Rechts seine Schemazeichnung eines Evolutionsbaumes mit symbiogenetischer Herkunft der Zell-Linien.

Den russischen Symbiogenetikern hat damals kaum jemand geglaubt. Die Forschungs-Community war davon überzeugt, dass das, was Mereshkowski vorschlug, gar nicht sein könne: Schliesslich weiss man ja, dass das Leben von seiner Struktur her ein Baum ist und sowieso können Lebewesen einander nicht so durchdringen, dass sie zu einem werden. (Und was ist mit der Befruchtung von Eizelle und Spermium? — möchte man da fragen. Gut, in diesem Fall gehören beiden zur selben biologischen Art. Dennoch könnte einem das zu denken geben …)

Margulis und die 5-Komponenten-Zelle
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So geriet die Idee der Symbiogenese in Vergessenheit — und wurde sechzig Jahre später von der amerikanischen Zellforscherin Lynn Margulis noch einmal entdeckt.

Margulis begann ihre Forscherkarriere in den 60er Jahren mit Experimenten, die eine zu jener Zeit noch umstrittene Hypothese bestätigten: dass sich in den Chloroplasten eine eigene, vom Zellkern teilweise unabhängige DNA befindet. Sie stellte sich die Frage, wie diese DNA überhaupt in die Chloroplasten hineingekommen sein konnte. Ihre Antwort war: Diese DNA ist nicht, wie damals noch vermutet wurde, aus dem Zellkern in die Chloroplasten herübergewandert. Sie gehörte von Anfang an zu den Chloroplasten dazu. Diese hatten sie mitgebracht, als sie ihre neue Lebensgemeinschaft mit der sie umhüllenden Zelle eingingen.

Einen Teil dieser DNA haben die Chloroplasten, ebenso wie die Mitochondrien, bis heute behalten, ein anderer ist dann in den Zellkern transferiert worden. So ist die eigentliche Fusion entstanden — und sie ist unauflösbar: Weder Chloroplasten noch Mitochondrien sind lebensfähig ohne die eukaryotische Zelle, die sie umgibt und deren Teil sie sind.

Lynn Margulis schuf die moderne Version der Symbiogenese-Theorie

Margulis’ These widersprach vollkommen dem neodarwinistischen Mainstream ihrer Zeit und brauchte zwanzig Jahre, um sich durchzusetzen. Heute ist sie als Theorie der seriellen Endosymbiose (gr. endo: „innen“) in allen zellbiologischen Lehrbüchern zu finden.

Ablauf der seriellen Endosymbiose bei der Entstehung von Tier-, Pilz- und Pflanzenzellen nach Margulis (Serial Endosymbiosis Theory, SET). Photosynthetisierende Cyanobakterien und Sauerstoff veratmende Proteobacteria werden in die entstehende komplexe Zelle integriert, eventuell auch Spirochaeten (Spiralbakterien). Bildquelle: Nathalie Gontier, „Reticulate Evolution Everywhere“, 2015

Margulis ging in ihren Vermutungen sogar noch weiter als ihre russischen Vorgänger. Sie hat weitere Elemente der eukaryotischen Zelle identifiziert, die ebenfalls aus einer Verschmelzung mit ehemals unabhängigen Lebewesen entstanden sein könnten. Ihrer Ansicht nach ist der „Bewegungsapparat“ von eukaryotischen Zellen, so zum Beispiel die Zilien (Wimpern), ebenfalls aus einer Fusion mit ehemals selbständigen, aktiv schwimmenden Spiral-Bakterien (Spirochaeten) hervorgegangen, und selbst für den Zellkern vermutet sie einen bakteriellen Ursprung. Die eukaryotische Zelle bestände dann also nicht aus drei, sondern aus mindestens fünf Komponenten.

Es gibt noch heute Organismen, an denen man verschiedene Stadien solchen Verschmelzungen beobachten kann. Einer davon ist Mixotricha paradoxa. Mixotricha lebt in grosser Zahl im Darm von Termiten und ist dort bei der Verdauung von Zellulose behilflich.

Mixotricha paradoxa ist ein Konsortium von mindestens fünf verschiedenen Zellsorten. Die „Behaarung“ der Hauptzelle besteht aus Spiralbakterien (Spirochaeten), die auf der Zelloberfläche in speziellen Vertiefungen angesiedelt sind, erkennbar auf dem Schnittbild recht. Bild links: Dean Soulia

Dieses seltsame Wesen besteht aus mindestens fünf verschiedenen Arten von Einzellern und Bakterien, die jeweils unterschiedliche Funktionen ausführen. Tatsächlich ist die Oberfläche der Hauptzelle von Mixotricha mit Spirochaeten besiedelt, die dafür sorgen, dass sich der Gesamtkomplex Mixotricha schwimmend durch den Darminhalt des Termiten bewegen kann — ein Indiz dafür, dass Margulis mit ihrer Vermutung Recht haben könnte.

Evolution, wie’s sich nicht gehört
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Die Frage, aus wieviel Komponenten die eukaryotische Zelle nun wirklich besteht, wird noch lange offen bleiben. Es könnten auch wesentlich mehr als fünf sein — ob sich andere ehemalige Symbionten vollständig im Gesamtorganismus aufgelöst haben und wie viele dies möglicherweise waren, lässt sich wohl kaum rekonstruieren. Klar aber ist: Die moderne Zelle, die Zelle aller Pflanzen, Pilze und Tiere ist ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes Wesen, sie ist eine Art kleines Monster, ähnlich den Chimären der griechischen Mythologie, bei denen ein Löwenkopf auf einem Ziegenkörper sitzt, an dem der Schwanz eines Drachen hängt.

Führt man sich das vor Augen, so zeigt sich: Mit einem Baum hat die Evolutionsgeschichte der eukaryotischen Zelle wenig zu tun. Zeichnet man ihre Entstehungswege nach, so sieht man anstatt von Linien, die sich verzweigen solche, die sich vereinigen, die zusammenlaufen, ja die sich in komplexer Weise ineinander verschränken und verschlingen.

Prinzip darwinistischer (links) vs. symbiogenetischer Verläufe von Abstammungslinien.

Und auch in anderer Hinsicht hat diese zentrale Episode aus der Entwicklungsgeschichte der Zellen wenig gemeinsam mit den herkömmlichen, darwinistischen Vorstellungen über die Evolution. Denn die evolutionäre Neuerung entsteht hier nicht Schritt für Schritt durch die Aneinanderreihung zufälliger Mutationen. Sie geschieht durch etwas, das weder Darwin noch irgendein anderer der Begründer des modernen Evolutionsdenkens überhaupt in Betracht gezogen hatte: durch die Fusion, genauer: die verschachtelte Fusion völlig unterschiedlicher, in nichts miteinander verwandter Arten. Nach dem Prinzip „aus zwei mach eins“ entsteht aus bereits existierenden Komponenten mit einem Schlag ein völlig neues Wesen mit vollkommen neuen Eigenschaften und Fähigkeiten.

Die Entstehung der eukaryotischen Zelle passt nicht zum üblichen, darwinistischen Bild der Evolution

Und was ist mit der Konkurrenz, dem erbarmungslos-unheiligen Geist des Darwinismus? Um die geht es hier eigentlich gar nicht. Wenn schon, dann könnte man sagen: Es geht um — zunächst vermutlich unfreiwillige, zufällige — Kooperation. Wobei auch dieser Begriff mit Vorsicht zu geniessen ist, schliesslich stand am Ursprung der schicksalhaften Partnerschaft zwischen der Vorläuferin der eukaryotischen Zelle und ihren bakteriellen Gästen ein verhinderter Verdauungsvorgang.

Sowieso muss man auf der Hut sein bei vielen der Begriffe, die im Zusammenhang mit der Evolution verwendet werden — ganz besonders bei dem des Darwinismus selbst. Charles Darwin würde wohl bedenkenvoll die starken Augenbrauen runzeln, wüsste er, welche Theorien wir heute mit seinem Namen verbinden.

3. Die Macht der Ideen
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Darwin, Darwinismus, Neodarwinismus
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Zum Beispiel war die Genetik, die in der modernen darwinistischen Evolutionstheorie einen so gewaltigen Stellenwert hat, Darwin selbst noch vollkommen unbekannt. So wurden etwa Mendels klassische Kreuzungsversuche an Erbsenpflanzen erst einige Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Origin of Species (1859) veröffentlicht. Die Idee der Evolution durch natürliche Zuchtwahl darf auch nicht allein Darwin zugeschrieben werden: Fast deckungsgleich hatte sie auch Alfred Russel Wallace entwickelt, die beiden Forscher standen sogar im Austausch miteinander.

Charles Darwin 1855, Alfred Russel Wallace um 1867. Wallace war 14 Jahre jünger als Darwin (Darwin 1809–1882; Wallace 1823–1913)

Das, was wir meist einfach „Darwinismus“ nennen, ist eigentlich die sogenannte neodarwinistische oder synthetische Evolutionstheorie, die in den dreissiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand. Sie brachte die von Darwin und Wallace formulierten Grundideen mit der Mendelschen Genetik zusammen, später dann auch mit weiteren Elementen der jeweils aktuellen biologischen Forschung, wie der Entwicklungsbiologie, der Molekulargenetik und der Ökologie. Das sollte man stets im Blick haben, wenn man heute vereinfachend von „Darwinismus“ spricht.

Eines jedoch hat sich nie geändert: Im Zentrum all dieser miteinander verbundenen Theorien steht, als ihr zentrales Strukturmodell, das Bild des Baums der Arten, welcher sich stets verzweigt.

Bäume und Kämpfe
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Auch dieses Bild hat natürlich nicht Darwin erfunden. Der Baum ist ein uraltes Ordnungsmuster für das Lebendige, man findet ihn bei den Babyloniern als Weltenbaum, als Baum des Lebens in der Bibel, als Stammbaum der Familien in den Adelshäusern und, einhundert Jahre vor Darwin, als Baum der Arten-Namen in der Taxonomie des Carl von Linné. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch Darwin und die Naturforscher seiner Zeit sich die Struktur der Evolution als einen Baum vorstellten. Andere Modelle, wie sie nun etwa die Symbiogenese erfordert, standen ihnen im Grunde gar nicht zur Verfügung.

Carl von Linné (1707–1788) ordnete zwar die Pflanzen in eine baumartige Hierarchie, war aber von der Konstanz der Arten überzeugt, also kein Evolutionist. „Es gibt so viele Arten, als Gott am Anfang als verschiedene Gestalten geschaffen hat” ( in „Genera Plantarum“). Portrait von 1739.

Darwins Gedanken kamen also, so bahnbrechend sie waren, nicht aus dem Nichts. Sie entstanden vor dem Hintergrund bestehender Denkmodelle — und unter dem Eindruck der Geistesströmungen seiner Epoche und seines angelsächsischen, viktorianischen Kulturraums.

Zu Darwins Zeit reiften in Grossbritannien die Früchte der industriellen Revolution heran, die Wirtschaft florierte. Liberale, marktwirtschaftliche Ideen verbreiteten sich, der Bürger als Individuum wurde die treibende gesellschaftliche Kraft. Innerhalb weniger Jahrzehnte verdoppelte sich nahezu die Bevölkerung.

Diese explosionsartigen Bevölkerungszunahme nährte Befürchtungen, die schon einige Jahrzehnte zuvor der Nationalökonom Thomas Malthus formuliert hatte: Die Steigerung des nationalen Wohlstandes würde zwangsläufig zu einer Überbevölkerung führen, die diesen Wohlstand wieder vernichte. Das ganze System würde sich dann erst in einem opferreichen Kampf ums Dasein so regulieren, dass es ausreichend Ressourcen für alle gebe.

Thomas Robert Malthus (1766–1834), britischer Nationalökonom der Industriellen Revolution, und sein Essay zur Bevölkerungstheorie, der Darwin stark beeinflusste.

Die Verwandtschaft zu Darwins Ideen ist offensichtlich, sogar der Ausdruck Kampf ums Dasein ist bereits präsent. Darwin selbst beschreibt in seiner Autobiographie, wie ihm die Werke Malthus’, gemeinsam mit der erprobten landwirtschaftlichen Praxis der Zuchtwahl, den entscheidenden Anstoss zur Entwicklung seiner eigenen Theorien des survival of the fittest und der natürlichen Auslese gaben.

Schicksal Biologie
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Aber nicht nur hatte die Geistesgeschichte Einfluss auf den Darwinismus, es gilt auch das Umgekehrte: Der Darwinismus entfaltete seinerseits eine Wirkung weit über die Grenzen der Biologie hinaus. So hatte er entscheidenden Anteil daran, dass das religiöse Weltbild, sowieso seit der Aufklärung in ein Rückzugsgefecht verwickelt, weiter geschwächt wurde, und war damit einer der Wegbereiter der kulturellen Moderne im 20. Jahrhundert.

Ist der Übergang in eine säkulare Moderne heute bereits vollzogen?

Später nahmen die von Darwin ausgelösten Stosswellen auch oft unheilvolle Richtungen, etwa als der Sozialdarwinismus mit seinen Ideen vom „guten“ und „schlechten“ Erbgut den Nationalsozialismus und seine Rassenlehre befeuerte.

Heute ist das Denken à la Darwin zu einer Vielzweck-Schablone geworden. Anthropologen rätseln über die evolutionären Vor- oder Nachteile verschiedener sexueller Präferenzen, Fernsehsendungen und Journale zitieren eine schlichte Version vom „egoistischen Gen“ herbei, um dem abgeirrten Trieb prominenter treuloser Ehemänner zu erklären, und auch im privaten Umfeld kann man mitunter hören, es sei nur natürlich, weil den Gepflogenheiten der Evolution entsprechend, wenn sich jeder egoistisch und allein gemäss seiner eigenen Interessen verhalte.

Da kommt es vielleicht ganz zur rechten Zeit, dass sich unsere Ideen über das Lebendige gerade grundlegend verändern. Denn auch diese Veränderungen werden wieder, genau wie die von Darwin angestossenen, weitreichende Folgen auf unser Weltbild haben: Nicht nur darauf, wie wir uns das Verhältnis der Lebewesen zueinander vorstellen, sondern auch auf unsere Ideen über unserer eigenes Dasein und unsere menschlichen Beziehungen miteinander.



4. Mehr Kreuz und Quer
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Nun könnte man ja vermuten: Na schön und gut, der Fall der symbiogenetischen Entstehung der eukaryotischen Zellen war eine Ausnahme. Ein anomaler Knoten im Evolutions-Stammbaum. Und Mixotricha mag ein einmaliges Monstrum sein, wie es die Natur nur unter den speziellen Lebensbedingungen im Termitendarm hervorgebracht hat. Ansonsten ging aber alles mit rechten Mitteln zu in der Evolution, im Grossen und Ganzen ist unser baumhaftes, darwinistisches Bild von ihr korrekt. Damit allerdings hätte man unrecht.

Verschmelzende Einzeller
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Denn Beispiele von einzelligen Organismen in verschiedenen Fusions-Zuständen gibt es zur genüge. Paramecium bursaria, das Grüne Pantoffeltierchen, beherbergt in seinem Zellinnern das photosynthetisierende Cyanobakterium Chlorella, und bei der Amöbe Paulinella chromatophora hat man festgestellt, dass sie ihre Photosynthese-Gäste, ebenfalls Cyanobakterien, sogar mehrfach aufgenommen hat.

Njam! Immer wieder haben im Laufe der Evolution Einzeller innere Symbionten aufgenommen und sind in unterschiedlichem Masse mit ihnen verschmolzen. Bild: Keeling 2004 Am J Bot

Andere Amöben beinhalten Proteobakterien, wie sie vermutlich einmal die Vorläufer von Mitochondrien gewesen sind, und bei manchen Zeckenarten hat man sogar im Inneren zelleigener Mitochondrien weitere Bakterien als Symbionten gefunden. Und diese Liste kann man lange fortführen.

Die Cnidozysten-Story
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Besonders anschaulich für die „Verschmolzenheit“ mancher biologischer Formen ist die mutmassliche Geschichte einer Besonderheit der Nesseltiere (Cnidaria), wirbelloser Meerwasserbewohner, zu denen auch die Quallen gehören. Sie besitzen winzige, hochraffinierte Apparate mit einer Art vergifteter Harpune, die Cnidozysten, mit denen sie ihre Beute lähmen und Angreifern schmerzhafte Reizungen zufügen können.

Der Pfeilgiftapparat von Nesseltieren: Wenn der Trigger berührt wird, löst der Cnidozyst aus und schiesst den Haken mit dem giftgefüllten Faden in die Haut des Angreifers.

Dass die Cnidozysten während der Entwicklung der Nesseltiere auf dem darwinistischen Weg von Mutation und Selektion zustandekommen sind (dass also einige durch Zufall Gift enthaltende Quallen-Zellen sich weiter perfektionierten), ist eher unwahrscheinlich. Denn exakt der gleiche komplizierte Mechanismus existiert auch bei anderen, nur teils verwandten Wasserlebewesen. So findet man Cnidozysten auch bei Myxozoa (einer Art parasitischer Mini-Nesseltiere) und sogar bei manchen Einzellern wie den Dinoflagellaten.

Mit der Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommen und in Zeitlupe abgespielt: Cnidozysten (auf Englisch auch „Nematocysts“ genannt) feuern ihre Harpunen ab.

Der Cnidaria-Spezialist Stanley Shostak von der University of Pittsburgh geht heute davon aus, dass eine gemeinsame, einzellige Vorform all dieser Lebewesen einst von „wehrhaften“ Bakterien infiziert worden ist, die bereits im Besitz einer solchen Pfeilwaffe waren. Die Bakterien hätten sich dann im neuen Organismus völlig aufgelöst, und der Cnidozysten-Mechanismus mitsamt des ihn codierenden Genoms wäre so in den Besitz der heutigen Zellen übergegangen.

Besondere Brisanz bekommt dieser mögliche Waffendeal dadurch, dass auch noch völlig andere Lebewesen von ihm Nutzen ziehen: Es gibt nämlich unter den farbenfrohen Meeres-Nacktschnecken (Nudibranchia), die als Weichtiere eigentlich wehrlos sind, einige besonders raffinierte Waffendealer. Diese Arten stehlen den Giftapparat gewissermassen von den Nesseltieren: Sie nehmen die Cnidozysten auf, wenn sie eine Qualle oder eine Seenanemone verspeisen. Die Pfeilapparate wandern dann, ohne ausgelöst zu werden, durch die ganze Schnecke hindurch bis an ihre Oberfläche, wo sie in weiter geladenem Zustand für deren Verteidigung sorgen.

Cnidozysten in der Haut einer Meeres-Nacktschnecken. Sie hat die Pfeilgift-Apparate zuvor beim Verspeisen von Nessetieren aufgenommen.

Dass die Natur besonderen Wert auf die Nicht-Vermischung ihrer Stammbaum-Äste lege, kann man da nun wirklich nicht behaupten.

Symbiogewebe bei Bakterien-Insekten-Symbiosen
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All diese Beispiele stammen aus dem Bereich des Lebens unter Wasser, das ja in seiner Seltsamkeit sowieso mitunter so wirkt, als hätte es sich von einem anderen Planeten auf den unseren verirrt. Doch auch an Land findet sich umfassende Symbio-Evolution. So bilden etwa viele Insekten, die in ihrem Inneren Bakterien beherbergen, für ihre endosymbiotischen Partner regelrechte Organe, die Bakteriome. Sie erinnern oft an Drüsen und unterscheiden sich physiologisch kaum von anderen inneren Organen des Insekts.

Viele Insekten bilden Organe für die symbiotisch in ihnen lebenden Bakterien — die Bakteriome. Insekten und Bakterien bilden geradezu einen gemeinsamen Organismus, Gene sind von den Bakterien auf den Wirt übertragen worden. Bild: Masson et al., „Antimicrobial peptides and cell processes tracking endosymbiont dynamics“, 2016

Genetische Untersuchungen haben ausserdem ergeben, dass auch hier, genau wie im Falle der Mitochondrien und des Zellkerns, in beträchtlichem Masse Gene vom Symbionten auf den Wirt übertragen worden sind, zudem sind viele dieser Insekten ohne ihre Symbionten nicht lebens- oder fortpflanzungsfähig. Bakterien und Insekt bilden also tatsächlich eine Einheit, einen gemeinsamen Organismus.

Koso-Poljanski aus der Troika der frühen russischen Symbiogenetiker bezeichnete solche Bildungen, von denen auch er schon Kenntnis hatte, denn auch als regelrechtes Symbiogewebe — ein Gewebe also, das weder eindeutig dem Wirtsinsekt noch den es besiedelnden Bakterien zugeordnet werden kann.

Bestehen Pflanzen aus zwei (oder mehr) Komponenten?
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Die Erforschung der Symbiogenese wurde von russischen Botanikern begonnen, und in der Botanik könnte sich möglicherweise auch ein weiterer Fall einer bahnbrechenden biologischen Verschmelzung zu finden sein.

Pflanzen werden ja üblicherweise als unmittelbare Abkommen photosynthetisierender Algen betrachtet, also einfacher eukaryotischer Wasserlebewesen mit Chloroplasten-haltigen Zellen — die ihrerseits eine symbiogenetische Vorgeschichte besitzen. Schon in den 60er Jahren beobachte man jedoch, dass eine ganze Reihe pflanzlicher Zellen sich überhaupt nicht nach dem Vorbild einer Alge verhalten, sondern eher wie Pilzzellen. Diese untypischen Pflanzenzellen betreiben keine Photosynthese, statt dessen ernähren sie sich von abgestorbenen Gewebezellen der Pflanze selbst. Sie wachsen auch wie ein Pilzgeflecht mit fädigen Verzweigungen in die Räume zwischen anderen pflanzlichen Gewebszellen hinein.

Pflanzen gelten als Abkommen von Algen, manche Pflanzenzellen verhalten sich aber verdächtig pilzartig

Der kalifornische Symbiose-Forscher Peter A. Atsatt hält es daher für wahrscheinlich, dass die heutigen Pflanzen aus einer Kombination von photosynthetisierenden Algen- und Pilzzellen entstanden sind. Sie wären dann in gewissen Weise den Flechten ähnlich, die ja eine Symbiose aus Pilz-, Algen- und, wie man erst seit einigen Jahren weiss, auch Bakterienzellen sind.

Allerdings wäre die Integration dieses Komponenten bei den Pflanzen viel weiter gegangen als bei den Flechten: Sie wären vollständig miteinander zu einem einheitlichen Organismus verschmolzen, der sich auch durch eine einzige Samenzelle fortpflanzt. Die Symbiose bei den Flechten hingegen beschränkt sich auf ein einfaches Zusammenleben der Komponenten, die auch für sich allein, unabhängig voneinander, lebensfähig sind.

Sollte Atsatt Recht haben, so könnte — nach der Entstehung der eukaryotischen Zelle — noch ein weiterer Urknall der Evolution, nämlich die Entstehung der Pflanzenwelt, auf Symbiogenese beruhen.

Und was ist mit den Leukozyten?
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Dem russischen Symbiogenetiker Koso-Poljanski hätte Atsatts Hypothese sicherlich gut gefallen. Er dachte selbst in grossen Massstäben und sah in der Symbiogenese den fehlenden Gegenpart zum damaligen Darwinismus. Besonders zu denken gab ihm dabei die weitreichende Autonomie, die die einzelnen Organe vieler Lebewesen dem Gesamtorganismus gegenüber haben. Als ein Beispiel für eine solche Unabhängigkeit galten ihm die Leukozyten, die weissen Blutkörperchen, die wichtigsten Zellen unseres Immunsystems.

Boris Koso-Poljanski (*1890 in Aschchabad, 1957 in Woronesh) war Professor für Botanik an der Universität Woronesh und Gründer des dortigen Botanischen Gartens. Koso-Poljanski war der jüngste der drei russischen Symbiogenetiker und der mit der stärksten theoretischen Ausrichtung. Der unten angegebene Text ist die Ankündigung seines Vortrags 1921 beim Allrussischen Kongress der Botaniker in Petrograd (St.-Petersburg) mit dem Titel „Theorie der Symbiogenese und vorläufige Hypothese zur Pangenese”. Koso-Poljanski vertritt bahnbrechende Thesen, wie: die Evolution schreite in Sprüngen fort und die Vorstellung eines sich verzweigenden Stammbaumes der Arten sei falsch. Diesen Ansichten zum Trotz verstand Koso-Poljanski die Symbiogenese als eine Ergänzung zum Darwinismus, nicht als dessen Alternative — wie es auch aus heutiger Sicht erscheint. Übersetzung des Textes hier.

Die Leukozyten sind ständig in unserem Körper unterwegs, wie Schienengeher bei der Bahn laufen sie aktiv die Wände der Blutgefässe ab, krabbeln in die Spalten zwischen den Zellen unserer Organe, immer auf der Suche nach Fremdkörpern und entarteten Zellen, die sie sich einverleiben und vernichten können. Das wirkt in der Tat so, als seien sie früher einmal auf eigene Faust unterwegs gewesen. Koso-Poljanski vermutete vor knapp einhundert Jahren, Leukozyten seien einst freilebende Amöben gewesen, die auf irgendeinem Wege in die Körper unserer frühen tierischen Vorfahren hineingelangt sind und sich dann dort als nützlich erwiesen haben. Ähnliches dachte er auch über andere Bestandteile des Blutes, die Thrombozyten und die Erythrozyten. War er damit auf einer richtigen Spur?

5. Gedächtnislücken
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Bislang ist der Forschung diese Frage ein wenig zu exotisch. Aber grundsätzlich sind die Chancen, dass sie einmal geklärt wird, gar nicht schlecht — wie auch im Fall der möglichen symbiogenetischen Herkunft der Pflanzen. Denn je mehr unsere genetischen Datenbanken wachsen — und das tun sie in einem atemberaubenden Tempo — desto wahrscheinlicher wird es, dass sich biologische Abstammungsverhältnisse klären lassen, auch solche einzelner Zellsorten oder Gewebearten.

Aber nicht alle Fragestellungen in der Evolutionsforschung haben so eine gute Prognose. Das Lebendige ist ein besonderes Untersuchungsobjekt, eigensinnig und oft bockig, vor allem vergisst es schnell.

Von all den Evolutionsereignissen, die seit fast vier Milliarden Jahre auf der Erde stattfinden, werden wir nur einen verschwindend geringen Anteil irgendwann einmal rekonstruieren können — der überwiegende Teil ist für immer verloren.

So ist es es wohl auch mit dem Beginn des Lebens selbst. Zwar gehen die meisten Forscher heute davon aus, dass unter den besonderen chemischen und physikalischen Bedingungen der jungen Erde organische Moleküle mit Fähigkeit zur Selbstvervielfältigung entstanden sind, die dann nach und nach komplexere Strukturen gebildet haben. Aber welche waren es, und wie genau kann dies stattgefunden haben? Darüber lässt sich nur rätselraten.

Später dann, vor ungefähr 600 Millionen Jahren, sind in recht kurzer Zeit die Böden der Urozeane von seltsamen Lebewesen bevölkert worden — wir besitzen zahlreiche Fossilien dieser Ediacara-Fauna, haben aber nicht die geringste Ahnung, worum es sich bei ihnen handelte: Um frühe Formen tierischen Lebens? Um unter Wasser gedeihende Flechten oder Pilze? Um eine gänzlich andere Lebensform, die danach ausgestorben ist?

Rekonstruktion der Lebensformen der Ediacara-Fauna. Bild: Ryan Somma

Doch auch Ereignisse, die nicht so weit zurückliegen, sind oft dem Zugriff der Forschung weitgehend entzogen. Was geschah beim plötzlichen Auftauchen der Blütenpflanzen vor 100 Millionen Jahren? Schon Darwin zerbrach sich den Kopf über dieses „grauenerweckende Rätsel“. Wann und vor allem wie begannen die Vögel — oder ihre Vorläufer? — ihre Eier mit Kalkschalen zu umgeben? Wie entdeckten Pflanzen, dass sie mit nahrhaften Früchten Tiere als Verbreiter nutzen konnten? Wie lief es ab, als die menschliche Intelligenz entstand?

Um die Evolution zu verstehen, ist es unumgänglich, sie im Zusammenhang zu betrachten. Aber uns fehlen überall die Zeugnisse vergangenen Geschehens. Wir stehen vor einem Archiv, dessen grösster Teil verbrannt ist, von den Wassermassen der Zeit fortgeschwemmt oder einfach zu Staub zerfallen, und aus diesem Staub müssen wir, in einem prekären, unzuverlässigen Indizienprozess, nun lesen wie in einem Kaffeesatz.

6. Horizontaler Genverkehr
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Bakterien siedeln sich in anderen Zellen an und verschmelzen mit ihnen, Waffen mit Pfeilgift wandern durch die Artenwelt, in Insekten bilden sich Bakterienorgane, Pflanzen entstehen (vielleicht) aus der Fusion von Algen- und Pilzzellen — all das ist beeindruckend und macht ein neues Denken über die Struktur der Evolution vonnöten. Aber was ist mit den Genen? In all diesen Fällen müssen die beteiligten Organismen doch zumindest teilweise auch ihre Gene ausgetauscht haben, sie in einem gemeinsamen Genom vereinigt. Geht das überhaupt?

Einige der heute belegten und untersuchten Fälle von Gentransfer auf eukaryotische Lebewesen (Pflanzen, Tiere, Pilze — mittlerer „Ast“). In der stilisierten Darstellung ist auch die Aufnahme von Chloroplasten und Mitochondrien dargestellt (kleine grüne und braune „Blätter“). Abbildung: Julie C. Dunning Hotopp, „Lateral Gene Transfer in Multicellular Organisms“, 2013

Wir sind ja daran gewöhnt, das Genom als das innerste Schatzkästchen eines Organismus zu betrachten, in dem sein biologisches Ich hinterlegt ist, in dauerhaft codierter Form, und auf das nie, unter keinen Umständen, eine fremde Instanz Zugang erhalten kann.

Symbiogenetische Fusionen setzen genetischen Austausch voraus — über die Artgrenzen hinweg

Aber diese Vorstellung ist nicht mehr aktuell. Wir wissen heute, dass jedes Genom in stetem Austausch mit der Aussenwelt steht, das heisst: mit anderen Genomen.

Gentransfer bei Bakterien
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Am deutlichsten tritt dies bei den Bakterien in Erscheinung. Bei ihnen gehört das Hin- und Herschieben von Genen zur Tagesordnung — auch zwischen Zellen verschiedener Stämme und verschiedener Arten. Aber Bakterien haben es auch leicht, mit ihren Genen zu schachern, denn ihre Zellen besitzen nur eine einfache Zellmembran (im Unterschied zur doppelten Zellmembran der eukaryotischen Zellen) und ihr Erbmaterial ist nicht in einem Zellkern eingeschlossen. Daher können schon bei einem einfachen Kontakt der Zelloberflächen — der Konjugation — Gene übertragen werden.

Doch auch bei den eukaryotischen Zellen und bei Lebewesen, die aus ihnen aufgebaut sind — wie eben auch Nesseltiere, Insekten, Pflanzen — sind inzwischen vielfältige Fälle von sogenanntem lateralen oder horizontalen Gentransfer bekannt. Eine wichtige Rolle spielen dabei Elemente der biologischen Welt, die in Hinblick auf die Evolution bis vor wenigen Jahren nur wenig beachtet wurden, „wilde“ Genabschnitte, die selbst nur halb lebendig sind: die Viren.

Viren als Genvektoren und Gendesigner
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Viren sind überall. Sie kommen nicht erst mit der Schnupfenepidemie herbeigeflogen, überhaupt sind sie keinesfalls nur Krankheitserreger. Allein in einem Teelöffel Meereswasser finden sich rund 100 Milliarden Viren, der grösste Teil aller DNA auf unserem Planeten ist virale DNA.

Und Viren sind ständig zu Gast in allen Organismen, dringen in ihre Zellkerne ein, nutzen deren biochemischen Apparat dazu, sich zu vermehren, wechseln von einer Zelle in die andere, von einem Organismus in den nächsten. Man könnte sagen: Das ganze Leben ist zu jedem Zeitpunkt virendurchseucht — wenn das nicht wieder danach klänge, dass Viren zwangsläufig Krankheiten hervorrufen. Aber in den meisten Fällen richten sie keinerlei Schaden an.

Wirkungslos allerdings bleiben sie ebenfalls nicht. Sie mischen sich massiv ins Funktionieren der Zellgenome ein — im wahrsten Sinne des Wortes.

Viren sind Stränge von DNA oder RNA, die zumeist von einer Proteinhülle umgeben sind. Es sind keine Zelle, sie besitzen weder Zellplasma noch Organellen. Zu ihrer Vervielfältigung nutzen Viren die Zelle selbst, die sie infizieren. Viren sind selbst keine Lebewesen im eigentlichen Sinne, gehören aber als genetische Akteure mit zur Sphäre des Lebendigen. Auf dem Bild sind pathogene Viren dargestellt, die Krankheiten erregen, das ist aber lange nicht bei allen Viren der Fall. Bildquelle: slideshare.net / kindarspirit

So kommt es häufig vor, dass bei ihrem Verkehr von einer Zelle in die andere zufällige Genfragmente „mitschleppen“ (Transduktion) — fast in der Art eines Kleptomanen, der aus einem Supermarkt eine Packung Haferflocken mitgehen lässt, nur um sie dann an einem anderen Ort, sagen wir: einer Apotheke, wieder heimlich aus seinem Rucksack auszupacken, weil er eigentlich gar keine Haferflocken braucht.

Wenn so etwas häufig geschieht — und bei den Abermilliarden von Viren in unserer Biosphäre ist davon auszugehen — dann werden in jede Zelle immer wieder fremde Genabschnitte eingetragen. Besonders leicht ist ein solcher Austausch, wenn die Zellen unmittelbar aneinanderliegen oder eine direkte Flüssigkeitsbrücke zwischen ihnen existiert. Insofern könnten virale Übertragungswege auch der Grund dafür sein, dass bei Insekten mit bakteriellen Endosymbionten, also mit „Bakterien-Organen“, Gene dieser Bakterien in den Genomen der Insekten selbst zu finden sind. Auch beim Transfer von Mitochondrien- und Chloroplastengenen auf den Zellkern könnten Viren eine Rolle gespielt haben: Sie hätten dann dabei geholfen, die symbiogenetische Integration aus dem Stadium einer einfachen Symbiose in eine regelrechte Fusion zu überführen, also aus zwei Organismen einen einzigen zu machen.

Die Genküche der Viren
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Viren mischen aber nicht nur als unfreiwillige Helfer beim Gentransfer mit, sie sind auch selbst gestaltende Akteure der Evolution.

Dass sich Viren in genetischer Hinsicht extrem schnell verändern können, ist allgemein bekannt und stellt die Medizin immer wieder vor grosse Herausforderungen. Bewandtnis hat die ausserordentliche genetische Kreativität der Viren aber nicht nur in pathologischer Hinsicht. Die Virenwelt ist gewissermassen eine genetische Versuchsküche, in der ständig etwas brodelt, und ihre Kreationen werden ungefragt auch denjenigen Vertretern des Lebendigen zur Verfügung gestellt, in deren Zellen die Köche aus der Nanowelt regelmässig zu Gast sind.

Wenn ein Genabschnitt, der in der viralen Evolution entstanden ist, dann von einem eindringenden Virus im Genom der infizierten Zelle hinterlassen wird, so kann er auch dort prinzipiell wieder wirksam werden, also an der Proteinsynthese oder an regulatorischen Prozessen teilnehmen. Natürlich besitzt die Zelle selbst gegen solche eingetragenen Genabschnitte Abwehrmechanismen, aus ihrer Funktionsweise ist beispielsweise die Gen-Editierungsmethode CRISPR/Cas abgeleitet. Aber auch diese Mechanismen erkennen nicht alle viralen Fremdgene. Dass Virengene jedenfalls tatsächlich im Zielorganismus funktional werden, ist heute durch entsprechende Sequenzvergleiche belegt.

Haben Viren Organe geschaffen?
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Viren bringen nicht nur fremde und eigene Gene ins Genom ihres Wirtes ein — viele verlassen dieses Genom überhaupt nie wieder. Sie verspleissen sich dauerhaft mit ihm, während sie die Zelle für ihre Fortpflanzung nutzen, können auch in ihrem Wirtsgenom aktiv bleiben und zu Endoviren werden, also zu Viren, die nun von den Körperzellen selbst gebildet werden. Als solche haben sie vermutlich teils massiven Einfluss auf die Gewebsentwicklung im Körper.

So ist zum Beispiel die Plazenta der Säugetiere, während sie sich zu Beginn der Schwangerschaft herausbildet, von Viren regelrecht durchseucht, ohne dass es eine äussere Infektion gegeben hätte. Diese Viren sorgen für die Verschmelzung einzelner Zellen zu grossen plazentalen Megazellen, ein Vorgang, der für die Herausbildung der Plazenta unerlässlich ist.

Der Virologe Luis P. Villarreal von der University of California geht davon aus, dass es sich hier um ehemalige virale Eindringlinge handelt, die dann zu einem Teil des Säugetier-Genoms geworden sind. Er vermutet sogar, die Plazenta — und damit womöglich auch die Säugetiere selbst — sei überhaupt erst durch die Einwirkung dieser Viren entstanden, sie sei also das Ergebnis einer Infektion, möglicherweise sogar einer pathologischen, die dann von der Evolution in einen funktionalen Fortschritt, ein neues temporäres Organ, umgewandelt wurde.

Und das ist plausibler, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Viren nehmen ja tatsächlich oft Einfluss auf das Wachstum des Gewebes, das sie infizieren, wie im Fall der Bildung von Warzen oder Krebs.

Sind Viren also, auf eine Weise, die uns heute noch nicht abschliessend klar ist, im Laufe der Evolution regelrechte Organ-Bildner gewesen? So dass man nicht nur, wie Koso-Poljanski es tat, von Symbiogewebe, sondern auch von Viriogewebe reden müsste?

Schöpferische Infektion
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Infektion im erweiterten, evolutionären Sinne heisst nach heutigem Kenntnisstand also nicht nur, sich einen schädlichen „Keim“ zuzuziehen, der möglicherweise eine Krankheit auslösen wird. Infektion, gerade viralen Ursprungs, ist auch ein Prozess, der zu evolutionären Neuigkeiten führt. Das ist bemerkenswert, denn nach neodarwinistischer Vorstellung können Innovationen allein durch Mutation entstehen.

Der Unterschied ist aber nicht nur einer des Prinzips, sondern vor allem einer der Qualität. Denn eine Mutation kann immer nur eine Kleinigkeit am bereits bestehenden Gencode verändern, eine Infektion durch Viren dagegen bringt möglicherweise mit einem Schlag, en bloc, eine ganz neue Funktionalität in die Zelle hinein. Ihre evolutionären Auswirkungen könnten dann sehr mächtig sein: Ähnlich wie beim Entstehen neuer Organismen durch Symbiogenese könnte eine evolutionär wirksame Infektion einen Organismus so weit verändern, dass er — bzw. die Population, der er angehört — sich eine ganz neue ökologische Nische erschliessen kann und zum Entstehen einer neuen biologischen Art Anlass gibt.

Wie auch immer es um derartige Szenarien stehen mag — die geisterhaften und allgemein so ungeliebten Viren, Geheimagenten des genetischen Austausches und der symbiogenetischen Verschmelzung, könnten sich als die potentesten Aktoren der Evolution überhaupt herausstellen.

Der Mediziner und Evolutionsforscher Frank Ryan betrachtet überhaupt die Evolution als eine regelrechte Virolution. Und Salvador E. Luria, der massgeblich an der frühen Virenforschung beteiligt war, fragte schon 1959: „Sollten wir nicht annehmen, dass wir in den Viren, in ihrem Verschmelzen mit dem Zellgenom und ihrem Wiederauftauchen aus ihm, die Einheiten und Prozesse vor uns haben, die im Laufe der Evolution die erfolgreichen genetischen Muster schufen, die allen lebenden Zellen zugrundeliegen?“

Einige Forscher, unter ihnen der erwähnte Luis Villarreal, vermuten sogar, dass auch der Zellkern der eukaryotischen Zelle eigentlich ein riesiger Virus ist, der sich einmal in einer prokaryotischen Zelle eingenistet hat. Dann wären unser aller Chromosomen-Einheiten nicht, wie Lynn Margulis meint, ehemalige Bakterien, sondern — Viren.

Und da sag’ noch mal einer, Viren, das sei: Schnupfen.



7. Re-imagine Evolution!
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Hörte man früher Evolution, so dachte man gleich: Darwin! Kein Wunder: Der Darwinismus — genauer: der Neodarwinismus — war alles, was es gab, wollte man sich sinnvolle Gedanken über das Entstehen des Lebendigen machen. Heute hat man gleich drei Möglichkeiten zur Auswahl — nämlich neben dem Darwinismus auch Symbiogenese und Gentransfer. Und das ändert sehr viel.

Allein schon, weil man nun, wenn man hinausgeht in die Natur, eine vollkommen neue geistige Begleitmusik dazu ablaufen lassen kann. Endlich kann man sich ins blühende Gras einer Wiese werfen, dem Flöten des Pirol im nahen Gehölz lauschen und, während die Ameisen beissend unter den Hosenbund kriechen, sich fragen: Ob diese aufdringlichen Krabbler wohl auch Bakterien-Organe besitzen? Und wer weiss, wieso diese Kornblume so strubbelig blüht? Vielleicht, weil Viren mal ihr Gewebe gekapert und umgemodelt haben? Das ist etwas ganz anderes als nur immer die monotone Leier Alles nur Auslese und Zufall.

Die Rollen werden neu verteilt
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Aber nicht nur für den Naturfreund, auch für die Wissenschaft eröffnen sich vollkommen neue Perspektiven. Früher kannte man nur einen einzigen Prozess, der in der Evolution auf ernstzunehmende Weise Neues schaffen konnte: die Mutation. Vorgänge wie Symbiogenese und Gentransfer waren allerhöchstens Aussenseitern bekannt, und selbst die nahmen an, dass die bekannten Fälle Ausnahmen von der Regel darstellten. Heute hingegen haben wir es mit drei vollwertigen Kreativprinzipien in den Evolution zu tun.

Natürlich sorgt eine solche Auswahl auch für Verwirrung. Wo in der Evolution waren darwinistische Prozesse am Werk, wo Prozesse der Symbiogenese, wo solche des Gentransfers? Wo Kombinationen von ihnen, wo alles zugleich? Was war, was ist die hauptsächliche treibende Kraft in der Evolution?

Lynn Margulis, die Wiederentdeckerin der Symbiogenese, hatte dazu eine klare Meinung. Sie war der Ansicht, die Darwinsche Selektion sei nur „der Redakteur, nicht der Autor“ der Evolution.

Wenn sie Recht hat, dann heissen die Autoren, nach dem heutigen Kenntnisstand, Symbiogenese und Gentransfer. Sie wären es dann, denen wir zu verdanken haben, dass, wie Darwin es formulierte, „aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht“. Das (neo-)darwinistische Geschehen von Mutation und Selektion würde an diesen Formen dann nur noch den Feinschliff vornehmen, indem es hier und dort ein paar Details variiert und schlechte, missglückte Lösungen verwirft.

„Die Darwinsche Selektion ist nur der Redakteur, nicht der Autor der Evolution“, sagte Lynn Margulis

Was Margulis sagte, weist in die richtige Richtung — und ist doch zu pauschal. Dass die Selektion, oder, das neodarwinistische Zusammenspiel von Mutation und Selektion „nur Redakteur“ ist, stimmt vielleicht für manche, sicher aber nicht für alle Bereiche der Evolution.

Eine plausible Vermutung wäre etwa die, dass Symbiogenese und auch Gentransfer eher eine wichtige Rolle bei der Zellevolution gespielt haben, vielleicht auch bei der frühen Evolution mehrzelliger Organismen. Der Darwinismus dagegen war vermutlich eher in späteren Evolutionsetappen von Bedeutung, bei bei der Evolution der höheren Organismen. Gentransfer schliesslich könnte überall, auch bei der genetischen Veränderung der komplexeren Lebensformen, für das Entstehen von Neuerungen ausschlaggebend gewesen sein — man denke an die These des Virologen Villareal zur Entstehung der Plazenta.

Statt der alten Eiche …
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Wie man es dreht und wendet: Es bleibt viel könnte, möglicherweise und vielleicht. Eines aber zumindest ist klar: Die alte Eiche, der klassische, europäische, sich verzweigende Baum funktioniert nicht mehr als Bild fürs Evolutionsgeschehen. Ein neues illustratives Bild der Evolution muss her. Und es muss heute mindestens drei unterschiedliche Strukturelemente beinhalten, die auf eine unüberschaubar vielfältige Weise miteinander verknüpft und sogar ineinander enthalten sein können: die klassischen darwinistischen Gabelungen, die symbiogenetisch fusionierenden Abstammungslinien, dazu feinste Querverbindungen, die durch horizontalen Gentransfer zwischen den Arten entstehen.

Gemeinsam bringen sie eine Struktur hervor, die am Komplexheit kaum zu überbieten ist: ein in sich selbst verwickeltes Gestrüpp, einen vieldimensionalen Raum, durchstochen kreuz und quer von wormholes, einen immer wieder in sich selbst eingefädelten, grandios komplizierten, nicht-linearen superconnected space.

Kann man sich so etwas überhaupt auf eine anschauliche Art und Weise vorstellen? Gibt es irgendwo ein Modell dafür? In der Welt unserer täglichen Erfahrungen sicherlich nicht. Jedenfalls nicht, solange man in der Erfahrungswelt der westlichen Kulturen sucht, die unsere Evolutionstheorien hervorgebracht haben.

… eine bengalische Feige …
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Wer allerdings den Blick nach Osten wendet, nach Asien, genauer noch nach Indien, der kann mit Glück etwas entdecken, das sehr viel mehr der wirklichen Struktur der Evolution entspricht — nämlich den Banyan, die Bengalische Feige (Ficus benghalensis).

Auch der Banyan ist einerseits ein Baum. Es ist jedoch zugleich auch Anti-Baum, ja sogar Baum-Feind. Er ist nämlich ein Baumwürger, oder, wie man auch sagen könnte, Würgebaum.

Sein Samen, herbeigeschleppt mit Vogelkot, keimt aus in einer Astgabel — dort wächst dann der Banyan zunächst als Epiphyt, als Aufsitzer auf einem Trägerbaum. Doch bald beginnt er, Luftwurzeln auszusenden, wie Schnüre hängen sie herab von seinem Hochsitz. Und wenn sie dann bis an den Boden reichen, dann ist das Schicksal des Wirts besiegelt: Die Banyan-Wurzeln bohren sich in die Erde, beziehen Nährstoffe von dort , entwickeln sich zu starken Strängen, welchen den Stamm des Trägerbaums umwachsen, ihn strangulieren, bis er schliesslich abstirbt.

Hingegen der Banyan gedeiht nun immer besser. Er bildet selbst neue Äste, neue Luftwurzeln, die wiederum zu neuen Stämmen werden, und was entsteht, das ist ein hoch verworrenes Geflecht auf Dutzenden, mitunter Hunderten von Stelzen, darüber thront ein grünes Astwerk-Spannzelt — als Schattenspender in tropischen Breiten überaus willkommen.

Blick in einen Banyan-Baum. Rechts: Luftwurzeln umwachsen den Trägerbaum, der schliesslich abstirbt. (Bild links: rucksacklogbuch.wordpress.com, rechts: Wikipedia /Shyamal)

Im Banyan findet man Stränge, sie sich vereinen genauso wie auch Äste, die sich gabeln; die Fusionen befinden sich eher unten, die Gabelungen eher oben; was Stamm ist und was Krone lässt sich nicht mehr mit Klarheit sagen; das Ganze gleicht in vielem einen Netz und strebt doch irgendwie nach oben — all das ist voll mit Anklängen ans Evolutionsgeschehen.

Zumindest, was dessen Grobstruktur betrifft. Über das Feine weiss auch der Banyan nicht viel zu sagen. Es fehlt im Bild ein Element für all die zahllosen Vorgänge des Gentransfers, die Äste, Wurzeln oder Stämme in alle Richtungen haarfein aneinander binden.

… von magischen Spinnennetzen überzogen
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Man findet es im Frühherbst, im Altweibersommer. In diesen warmen, klaren Tagen glitzern überall hauchdünne, durchsichtige Fäden in der Luft: Es sind die Spinnfäden von winzigen Baldachinspinnen, die sich an ihnen vom leichten Wind in neue Lebensräume tragen lassen.

Mitunter verfangen sich diese Fäden in grosser Zahl an Bäumen am Weges- oder Feldrand, was diesen ein Aussehen verleiht, als seien sie von einem Schleier bedeckt, besonders am frühen Morgen, wenn sich dazu noch der Tau auf die feinen Fäden legt.

Kein Banyan, aber vielleicht der Sprössling eines Baums: Fäden der Baldachinspinne im Morgentau. Bild: Wikipedia/Watchduck

Solche zarten Spinnfäden, kann man sich denken, bedecken und durchziehen auch den Banyan-Baum. Jedesmal, wenn ein DNA-Abschnitt von einem Bakterium auf eine andere Zelle übergeht oder durch ein Virus von einem Organismus zum anderen getragen wird, spannt sich eine hauchdünne Verbindung zwischen zwei Strängen des Evolutionsgeflechts: Eine neue, winzige Teil-Verwandtschaft zwischen zwei Arten ist etabliert. Jedesmal, wenn in der Welt der Viren ein neues Gen entsteht und in die Dynamik des Lebenden eingebracht wird, kommt ein neuer Faden hinzu, von der warmen Luft herbeigetragen.

Und diese Fäden tun mehr, als nur Verbindungen anzuzeigen. Als hätten sie magische Kräfte, formen und verändern sie den Banyan-Baum selbst. Unter ihrer Einwirkung wendet sich wie von Geisterhand ein Ast, der zuvor Richtung Osten zeigte, um einige Grad nach Süden, ein anderer reckt sich mit einem Mal nach oben und wächst, schnell wie ein Bambusrohr, gen Himmel, und irgendwo entspringt aus einem Stamm plötzlich eine Blüte.

Hier ist der genetische Magier am Werk, die Querinfektion oder Transfektion, welche die Karten mischt im Code des Lebens, im Kleinen zwar, doch dafür unermüdlich. Ein myriardenfacher Mini-Hexenmeister, der winzigste Einstellungen des biologischen Gesamtsystems heimlich verändert und so, ohne zu wissen, was er tut, den ständigen Wandel der Lebensformen bewirkt und am Laufen hält. Darwin wäre, wüsste er davon, begeistert.

8. Vier Himmelsrichtungen
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Alles neu in der Biologie? Sehr viel zumindest. Und in sehr vieler Hinsicht. Ein kurzer Blick in vier verschiedene Richtungen zeigt: Beim Neu-Vorstellen der Evolution stehen wir noch ganz am Anfang.

–1–> Ersetzt die Freundschaft nun die Konkurrenz?
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Bereits der frühe Darwinismus hatte eine Kampfmoral, und bis heute sind Konkurrenz und Selektion das ideelle Herzstück des Evolutionsdenkens geblieben.

Doch nun spricht einiges dafür, dass diese Alleinherrschaft der Konkurrenz zu Ende geht. Denn wenn symbiogenetische Partner zusammenfinden und schliesslich fusionieren, dann geht es nicht darum, wer der Stärkste ist, sondern darum, was am besten zusammen passt: Nicht mehr survival of the fittest, sondern: what fits the best together. Konkurrenz und Selektion spielen hier zunächst keine Rolle. Ganz aus der Welt sind sie allerdings damit nicht: Denn früher oder später treten alle biologischen Neuheiten, wie auch immer sie entstanden sein mögen, eben doch in Wettstreit miteinander. Und wenn sie keinen Fortpflanzungserfolg erringen, so werden sie wieder verschwinden.

Kooperation und Konkurrenz — beide spielen ihren Part in der Evolution

Es gibt also nicht einen Geist, eine „Moral“ in der Evolution. Im Reiche des Lebendigen herrscht weder eine Republik der universellen Freundschaft, noch tobt dort eine ständige Schlacht aller gegen alle. „Freundschaft“ und „Feindschaft“ sind aufs Engste verschränkt und wirken auf die unterschiedlichsten Weisen aufeinander ein.

Und wenn es daher in Zukunft um die Frage geht, was denn „natürlich“ sei, weil aus der Evolution begründet — die Konkurrenz ja wohl, das Gegeneinander? Dann kann man guten Gewissens sagen: Sicher, auch das, aber das kooperierende Miteinander nicht weniger — und das Durcheinander, versteht sich, erst recht.

–2–> Was kommt nach Symbiogenese und Gentransfer?
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Von der ersten wissenschaftlichen Evolutionstheorie nach Darwin und Wallace bis zum heutigen dreigliedrigen, pluralen Modell hat das Evolutionsdenken einen gewaltigen Sprung nach vorn getan. Aber schon tauchen am Horizont der Forschung die nächsten grossen Themen auf — wie zum Beispiel das der non-coding-RNA.

RNA ist so etwas wie der kleinere, flinkere und vielseitigere Bruder der DNA. Non-coding-RNA (ncRNA) wird aus der „junk DNA“ ausgelesen, demjenigen Teil des Genoms, der nicht als Bauplan für Proteine dient. Und sie vollführt möglicherweise etwas, das man bisher für unmöglich hielt: Es könnte sein, dass sie — mithilfe eines Enzyms, der reversen Transkriptase — Information aus der Tätigkeit unseres Körpers wieder zurück in die Keimzellen schreibt. Das würde ein weiteres Tabu des (neo-)Darwinismus kippen. Denn nach unserer bisherigen Überzeugung kann der Informationsfluss immer nur aus dem Genom in den Körper stattfinden, nicht aber in umgekehrter Richtung.

Die Umbrüche in der Evolutionstheorie werden weitergehen

Wenn sich dieser Verdacht in Hinblick auf die ncRNA bestätigt — bisher handelt es sich um reine Hypothesen — dann wäre ein Organismus in irgendeiner Form für die Evolution seiner eigenen Nachkommen mit zuständig (Stichwort: Lamarckismus — allerdings gegenüber der klassischen Spielart stark abgemildert). Das würde unser gesamtes derzeitiges Evolutionsdenken auf den Kopf stellen, einschliesslich Symbiogenese und Gentransfer — die Evolutionsszenarien müssten vollkommen neu geschrieben werden.

–3–> Die Frage nach dem Einen und dem Vielen
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Und dann ist da noch die uralte Frage, die urphilosophische Frage nach dem Einen und dem Vielen, die sich jetzt auf eine neue Weise stellt.

Denn wenn alle Lebewesen in der einen oder anderen Form Kombinationen anderer Lebewesen sind und Genome sich ständig gegenseitig durchdringen — gibt es dann überhaupt noch einen Organismus, ein Individuum? Ist dann nicht alles immer eins und mehreres zugleich, ein „Eines-Vieles“?

Von der Sache her spricht einiges dafür, das so zu sehen. Die Sprache allerdings will da partout nicht folgen, sie kennt nur Singular oder Plural, ein Drittes gibt es nicht. Entscheidend ist nicht aber das Wort, sondern der Gedanke, den man mit ihm verbindet. Auch andere Begriffe stehen ja ganz selbstverständlich für ein „Eins-Vieles“ — Familie etwa. Und jeder weiss: Das sind mehrere, aber sie sind verwandtschaftlich verbunden, deshalb sind sie grammatikalisch „eins“.

In einer ähnlichen Weise muss nun auch das Wort Organismus umverstanden werden. So, dass sich jeder, der es benutzt, dessen bewusst ist: Gemeint ist nicht in der der gleichen Art ein Ding, wie wenn ich etwa sage: eine Kugel. Noch nicht einmal wie eine Maschine oder wie ein System. Die Überlagerung von Einem und von Vielem beim Organismus ist etwas Anderes, Besonderes, etwas Biologie-Spezifisches, etwas, das so nur im Lebendigen existiert: verschränkt mit Eigenem und Fremdem und tausendfach verflochten und verschmolzen.

Das Wort Organismus so zu verstehen — „verschmelzlerisch“ — könnte so einiges verändern — meine Vorstellung von mir selbst etwa. Denn es macht einen Unterschied, ob ich mich als eine Art Bio-Apparat betrachte, der sich aus einer Eizelle aufgefaltet hat — oder als eine innerlich aufs Feinste koordinierte Kolonie von Zellen oder Geweben und als ein Informations-Gemisch von Viren und zahllosen anderen Organismen.

Und solch ein Umverstehen würde vielleicht auch — irgendwann, auf indirekten Wegen — beeinflussen, auf welche Weise wir von uns selbst, uns gemeinsam, als Wir denken. Denn wir gleichen nicht einzelnen Playmobil-Figuren, die durch Zufall in der gleichen Kiste gelandet sind, „die Welt“ genannt. Wir hängen sehr viel mehr zusammen, — untereinander, doch auch mit allem anderen Lebendigen sonst. Vielleicht hilft uns der Blick aufs Biologische, gelegentlich von all den scheinbar so bedeutsamen eigenen und kollektiven Interessen ein Stück zurückzutreten, um zu verstehen: Wir sitzen nicht nur hier in einem Boot, sondern wir sind auch alle irgendwie, auf irgendeine Weise, eines Fleisches.

–4–> Wie zusammengesetzt sind wir eigentlich?
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– Also wenn ich das alles so höre … Ich frage mich auf einmal solche Dinge … Wenn alles irgendwie symbiogenetisch zusammengesetzt ist, dann bin ich das doch auch, oder? Was ist dann zum Beispiel mit meinen Augen?

– Wie meinst du das?

– Ich meine, dass … Ob meine Augen auch vielleicht mal irgendwann dazugekommen sind? Und vorher waren sie irgendwelche kugligen Gallert-Wesen, die besonders gut mit Licht umgehen konnten, und dann sind sie so festgewachsen und haben sich mit dem Gehirn verdrahtet? Oder die Haut. Das könnte doch mal eine Schicht von irgendwas gewesen sein, so ein Bewuchs, und der hat sich dann festgewachsen.

– Ha ha! Das ist ja geradezu Empedokles!

– Wie bitte?

– Empedokles, einer der ersten griechischen Philosophen. Der hat sich das so vorgestellt, dass auf der Erde erst Einzelteile von Lebewesen herumliefen, und die haben sich dann zusammengesetzt zu dem, was wir heute so kennen. Warte mal … hier: „Arme irrten für sich allein umher, ohne Schultern, und Augen schweiften allein herum, der Stirnen entbehrend.“ Genau wie du sagst! Er glaubte, dass die Teile, die nicht so gut zusammenpassten, sich dann wieder getrennt haben, die anderen sind zusammengeblieben.

„Augen schweiften allein herum, der Stirnen entbehrend“ — dieses sind Glasaugen.

– Ein echter Symbiogenetiker!

– Genau. Ein antiker Gegen-Darwin!

– Aber mal im Ernst — kann das nicht irgendwie sein? Dass es wirklich so war?

– Was die Augen angeht, kann’s nun wirklich nicht so gewesen sein, deren Entwicklung kannst du ja in der Evolution ziemlich lange zurückverfolgen, zumindest bei den Wirbeltieren. Da ist das Auge im Laufe der Zeit immer komplizierter geworden, aber einfach so „dazukommen“ ist es nie.

– Und was ist mit der Haut?

– Bei der Haut … Es klingt erst einmal kurios natürlich, aber auf eine Weise ist das vielleicht gar nicht so abwegig. Es könnten sich ja in der Tat auf irgendwelchen ganz frühen Vorfahren aller Tiere irgendwelche Zellen angesiedelt haben, die ihnen Schutz boten oder eine andere passende Funktion erfüllten, und dann sind sie mit ihrer Unterlage, wenn man es so nennen will, verschmolzen. Deine Haut wäre dann der Nachfolger dieser Ur-Haut, und meine Haut natürlich auch. Alle Darwinisten schreien jetzt natürlich vor Entsetzen auf, aber es gibt ja auch eine paar Empedokleïker unter den Biologen …

– Klingt interessant. Kannst du dir noch mehr Fälle vorstellen, wo heutige Organe Nachfahren von etwas sein könnten, das mal dazugekommen ist?

– Also ich habe manchmal diese Idee — aber wirklich, das ist jetzt reine Spekulation, Gedankenspiele, wir sind hier ja unter uns — also ich frage mich manchmal, ob nicht, ähnlich wie das Koso-Poljanski für die Leukozyten meinte, auch die Neuronen unseres Nervensystems und unseres Gehirns eigentlich fremde Zellen sind. Ob sie ursprünglich mal so eine Art Elektro-Einzeller waren, die sich in den ersten tierischen Organismen angesiedelt haben. Da haben sie dann erst für die Koordination zwischen den verschiedenen Geweben gesorgt, und schliesslich sozusagen die Kontrolle übernommen. Ich meine, ihnen ist es ja schliesslich zu verdanken, dass wir etwas entscheiden können, dass wir einen Geist haben, Bewusstsein …

– Soll ich dir was sagen? Ich kenne mich zwar nicht besonders gut aus in der Biologie, aber wenn ich das so höre, dann denke ich spontan: Das stimmt!

Waren die Neuronen unseres Nervensystems und unseres Gehirns ursprünglich körperfremde „Elektro-Zellen“? — Eine wilde, aber nicht abwegige Spekulation

9. Mehr Umverstehen
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Oh Schreck und Entsetzen. Lauter Spekulationen!

Natürlich! Denn die Biologie ist wieder jung geworden. Sie beginnt neu, von Null. Die bisher beschrieben Beispiele von symbiogenetischen Fusionen und die Einsicht, dass Gentransfer zwischen Arten des Lebendigen weit verbreitet ist, haben ein ganz neues Feld des Evolutionsdenkens eröffnet — ein bislang nicht erkundetes, nicht bestelltes.

In gewisser Weise sind wir wieder in einer Lage wie einst Empedokles: Es ist erst einmal so gut wie alles denkbar, die Grenze zum Phantastischen ist vorübergehend verwischt. Aber tatsächlich nur in gewisser Weise. Denn Empedokles hatte keinerlei Forschungsdaten, an denen er seine Phantasien hätte abgleichen können, sein einziger input war die Welt der Mythen. Seine Naivität war, in wissenschaftlicher Hinsicht, total.

Unsere heutige Naivität ist eine vollkommen andere: Sie ist eine wissende Naivität. Wir beginnen einerseits von Null, andererseits können wir unser Denken von einem gewaltigen und ständig wachsenden Datenschatz leiten lassen — vor allem von dem der aktuellen Genetik. Die neue Jugend der Biologie hat eine Menge Weisheit im Gepäck.

Modernes Spekulieren
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Wenn wir heute spekulieren — und spekulieren heisst nichts anderes als: Hypothesen bilden, Szenarien entwerfen –, dann muss sich jede Spekulation dem Test des Wissens unterziehen. Dass „Augen allein herumschweiften“, können wir da von vorn herein ausschliessen. Andere Hypothesen, solche, bei denen zunächst kein klares ja oder nein möglich ist, werden dann von der kommenden Forschung auf den Prüfstand gestellt. So wird das moderne Spekulieren beschnitten von den Fakten wie der Buchsbaum vom Friedhofsgärtner. Wenn dann noch etwas übrigbleibt, dann taugt es wirklich etwas.

Man sollte also meinen: Da die Gefahr, sich in wirklichkeitsferne Phantasien zu verrennen, durch wirkungsvolle Schutzmechanismen eingegrenzt wird, müsste sich doch nun die ganze biologische Wissenschaft voller Begeisterung auf all die neuen Ansätze werfen, von denen in diesem Text die Rede war. Aber so ist es nur zum Teil. Was die praktische Forschung angeht, so ist sie tatsächlich sehr aktiv, gerade was die Fragen des Gentransfers und auch die neue RNA-Thematik angeht. Aber die Theorie — das Ausarbeiten von Konzepten, das Vorschlagen neuer, umfassender Szenarien — ist extrem zurückhaltend.

Sicher, manche der Hypothesen, die sich anbieten, liegen deutlich ausserhalb des Etablierten. Vielleicht zu weit, um ohne Weiteres in Betracht gezogen zu werden. Eine Idee wie die von Koso-Poljanski, dass Bestandteile des Blutes wie die Leukozyten etwas symbiogenetisch Hinzugekommenes seien könnten, widerspricht vollkommen unserem gewohnten Konzept vom Organismus und von dessen Geschichte. Meine eigene Idee zu den Neuronen nicht weniger. Beide müssen in der Tat aus herkömmlicher Sicht phantastisch wirken. Denn wenn sie stimmen sollten, würde das ja bedeuten, dass unsere Körper im Grunde Mosaike sind aus anderen „Körpern“, eine Art Frankensteinsche Monster, von der Natur zusammengenäht aus Einzelteilen verschiedenster Herkünfte, und die Nähte dann geglättet von der Hand der Zeit.

Ein dritter symbiogenetischer Urknall?
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Oder dass es zumindest fast so wäre. Denn natürlich hätte dieses Zusammensetzen stattgefunden zu einer Epoche in der Evolution, als von „unseren“ Körpern noch nicht die Rede sein konnte — irgendwann vor einigen Hundert Millionen Jahren, als die ersten vielzelligen tierischen Lebewesen entstanden und sich allmählich die verschiedenen Grundbaupläne der Tierstämme herausbildeten. All solche Spekulationen über den „Mosaik-Körper“ würden also auf eine der grossen Lücken in Gedächtnis der Evolution verweisen. Denn über die Entstehung und frühen Entwicklungsgeschichte der Metazoa, der vielzelligen tierischen Lebewesen, wissen wir so gut wie nichts.

Es gähnt dort in der Tat ein schwarzes Loch der Nicht-Kenntnis. Wir wissen nicht nur nicht, wie überhaupt aus Einzellern Vielzeller geworden sind (durch Aneinanderlagerung verschiedener gleichartiger Einzeller? Dadurch, dass sich ein einzelner Einzeller in viele Zellen geteilt hat? — Es gibt konkurrierende Hypothesen). Wir wissen vor allen Dingen auch nicht, wie die Geschichte weiterging. Wie aus den ersten Zellklumpen oder Zellbällen dann Lebewesen mit einer strukturierten Anatomie entstanden sind, mit einer inneren Gliederung nach Organen, wie all die Gewebe und Funktionalitäten sich gebildet haben, die wir heute ganz selbstverständlich mit der Vorstellung von einem tierischen Organismus verbinden — natürlich auch mit unserem eigenen.

Es fehlt ein Szenario, das die Entstehung der Vielzelligkeit bei Tieren symbiogenetisch beschreibt

Meist geht man stillschweigend davon aus, dass die verschiedenen Elemente des Tierkörpers auf dem Wege einer Weiterentwicklung zustandegekommen sein müssen, dass sich einfache Strukturen nach und nach zu komplizierteren veränderten. Aber wenn man es in einem alternativen Szenario denken würde, in einem symbiogenetischen, dann wäre alles ganz anders abgelaufen. Dann müssten irgendwann in dieser historischen Dunkelzone der Tier-Evolution zu dem, was jeweils bereits bestand, einzelne neue Gewebe hinzugekommen sein: die Hautzellen, die Leukozyten, die Neuronen oder, wenn man noch ein wenig wagemutiger ist im Spekulieren, sogar diejenigen Zellen oder gar ganzen Funktionseinheiten, aus denen später Stützorgane entstanden sind, Skelettmaterial, oder manche Verdauungsorgane.

Ein solches Szenario, bei dem die anatomische Kompliziertheit dadurch zustandekommt, dass sich ein Mosaik aus verschiedenen Ursprüngen zusammensetzt, fehlt bislang. Dabei läge es, schaut man auf andere, bereits bekannte und belegte Beispiele von Symbiogenese, durchaus nahe. Zumal wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Reihe genetischer Prozesse kennengelernt haben, die so gut wie jede Hin- und Herübertragung von Information zwischen Einheiten des Lebendigen denkbar erscheinen lassen, und damit eine Erklärung für die Verschmelzung der lebendigen Mosaiksteine, für das Glätten der Nähte, zur Verfügung stellen könnten.

Und wenn sich ein solches Szenario — bisher ein reines Gedankenspiel — bestätigen würde, dann würde das wohl unser Gesamtbild vom Lebendigen so sehr verändern wie kaum ein anderes evolutionsbiologisches Umdenken zuvor. Denn auch hier geht es, nach der — belegten — symbiogenetischen Entstehung der eukaryotischen Zelle, nach der — womöglichen — Entstehung der Landpflanzen aus einer Fusion von Algen- und Pilzzellen, um ein Schlüsselereignis der Evolution. Es geht um eine mögliche Erklärung für den dritten Urknall in der Entwicklung des Lebendigen, die Entstehung des tierischen Lebens, und damit noch unmittelbarer als in den anderen Fällen auch um uns selbst, die Menschen.

Mehr Mut
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Dafür, dass solche Szenarien bisher nicht entwickelt wurden, gibt es viele Gründe. Zum einen liegen sie, wie gesagt, ausserhalb der etablierten evolutionstheoretischen Denkmuster. Dann sind sie von der Sache her alles andere als unproblematisch: Sie werfen Fragen auf, auf die es heute keine Antwort gibt, und gerade von genetischer Seite lassen sich auch schlagkräftige Gegenargumente gegen sie finden. Aber genau das könnte der Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung sein.

Dazu kommt aber auch noch etwas Drittes. Es wäre hier ein anderes Denken, eine andere Denkart notwendig als die, die üblicherweise in der Wissenschaft gefordert ist. Eine Denkart, die tatsächlich mehr von Empedokles enthält, mehr Spekulatives, ja mehr Dichterisches — aber unter den modernen Bedingungen, dass diese Dichtung konsequent zurechtgestutzt wird von der Forschung.

Wir sollten zumindest in dieser letzten Hinsicht über unseren Schatten springen und eine solche Denkart wagen. Wir sollen die grossflächige, die weitgehende Spekulation, die die grossen Szenarien in den Blick nimmt — solange sie informierte, wissenschaftlich kompetente Spekulation bleibt — wieder stärker zulassen in der Wissenschaft. Wir sollten sie als eine ihrer legitimen Spielrichtungen ansehen, als ihre Unter- oder Nebengattung, inspiriert und kontrolliert von der Forschung und dieser selbst im besten Falle wieder Anregungen gebend.

Ich selbst jedenfalls werde mir dieses Programm zu eigen machen. Und in meinen nächsten Texten zur Biologie das Neu-Sich-Vorstellen, das Re-Imaginieren der Evolution weiterführen und Fragen nachgehen wie diesen, Fragen aus der Grauzone zwischen Realistischem und Phantastischem, oder, wie es richtiger heissen müsste: zwischen dem, was uns derzeit realistisch oder eben phantastisch erscheint. Insofern, Freunde des Lebendigen — stay tuned.



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