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Epistemische Arroganz


Auf die ganze Breite der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft gesehen ist das grösste Problem nicht Desinformation oder Wissensmangel, sondern epistemische Arroganz: die Überzeugung, mehr zu wissen, als man tatsächlich weiss und als zu wissen überhaupt möglich ist.

Epistemische Arroganz ist allgegenwärtig in Politik, Gesellschaft und den Wissenschaften selbst. Sie führt zu falschen politischen Entscheidungen, zu toxischen gesellschaftlichen Debatten und zu wissenschaftlichen Fehlkommunikationen.

Manche Ursachen für epistemische Arroganz liegen auf der Hand (z. B. Selbstbezogenheit der menschlichen Psyche, Konkurrenzdruck in Politik und Wissenschaft), andere sind weniger offensichtlich. Sie stammen aus unserer Erkenntniskultur selbst, also dem historisch entstandenen Gesamt der Praktiken und Heuristiken, mit denen wir Erkenntnis organisieren. Zum Beispiel:

👍👎 binäre Erkenntnislogik: Wir erwarten, dass eine Auffassung, etwa ein wissenschaftliches Ergebnis, wahr ist oder eben nicht (also falsch). Diese Dichotomie entspricht nicht der realen Vielfalt der Erkenntnisarten, die vielerlei Zwischenstufen zulassen und auch ausserhalb der wahr-falsch-Matrix liegen können.

🤑 📈 Inflation und Überdehnung des Begriffs „Wissen“: Da „Wissen“ aus historischen Gründen unser einziges Wort für „gelungene Erkenntnis“ ist, wird alle Erkenntnis unter ihm subsummiert: auch die, deren Relevanz nur (?!) durch Plausibilität, Stimmigkeit, praktische Tauglichkeit oder intellektuelle Originalität zustandekommt. Da die moderne institutionalisierte Wissenschaft in nie dagewesener Frequenz Erkenntnisse produziert und das Renommee von „Wissen“ extrem hoch ist, wird leichtfertig jedes Erkenntnisprodukt als Wissen deklariert: Wir haben massenweise Wissens-Falschgeld in den Taschen.

⛔🌑 Fehlen eines negativen Korrektivs. Seitdem Wissenschaft Religion als Erkenntnis-Autorität abgelöst hat, wird Erkenntnis ausschliesslich als etwas Positivistisches, quasi-Dingliches verstanden. In einer religiösen Erkenntniskultur hingegen war auch negative Erkenntnis verankert, symbolisiert durch die Nichtwissbarkeit im Kern des Gottes-Konzepts. Heute fehlt ein modernes, nicht-religiöses Bewusstsein dafür, dass auch „Wissen um Nichtwissen“ wertvolle Erkenntnis ist.

🗣️ 📢 Aber auch die Wissenschaftskommunikation selbst trägt Mitverantwortung für die verbreitete epistemische Arroganz, u.a. weil sie sich historisch vornehmlich an Sachbeispielen positiver, nicht-dialektischer Wissenschaft orientiert (z. B. Klima). Ein integriertes, plurales Wissenschaftsverständnis, das die gesellschaftliche Interdependenz von 𝘚𝘤𝘪𝘦𝘯𝘤𝘦 und 𝘏𝘶𝘮𝘢𝘯𝘪𝘵𝘪𝘦𝘴 berücksichtigt, muss differenzieren, in welchen Fällen es um Faktizität geht und in welchen um „high fidelity scicomm“: eine Wisskomm, die auch nicht-wissensförmige Erkenntnis quellengetreu transportiert und innerwissenschaftliche Kontroversen und Pluralität durchsichtig macht.