Drosten, Streeck, BILD etc.: schneller Versuch einer ausgewogenen Betrachtung
– Der Bild-Artikel ist verzerrend, agitierend, unfair und wissenschaftlich inkompetent (s.u. – Fachdiskussion offen). Miserabler Journalismus, sogar für ein Boulevardmedium.
– Fachliche Kritik an der Studie ist grundsätzlich legitim (weil Teil des dynamischen, kontroversen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses) und möglicherweise in diesem Fall auch konkret sachlich gerechtfertigt (ob oder nicht oder inwieweit wird sich herausstellen).
– Die Frage, wie infektiös Kinder sind, wird weltweit untersucht und ist nicht geklärt: https://www.nature.com/articles/d41586-020-01354-0
– Es gibt, medial wie gesellschaftlich, eine Art Symmetrie der Animositäten: Die Lockerungs-Fraktion, salopp gesagt, „hat was“ gegen Drosten, die Lockdown-Fraktion „hat was“ gegen Streeck (zu Fraktionen s.u.). Aber es überwiegen die Asymmetrien (1-3):
– 1. Im Zentrum des Angriffs auf Streeck stand seine Kommunikation und seine mangelnde Distanz zu Politik/Wirtschaft (Kritik an der wissenschaftlichen Methodik und am Relevanzanspruch war vorhanden, aber sekundär); im Zentrum des Angriffs auf Drosten steht – prima facie – die Methodik der Studie, de facto ist diese Kritik aber gänzlich für die Lockerungs-Agenda instrumentalisiert.
– 2. Das argumentative Material gegen Streeck wurde vom Mediendiskurs selbst generiert (die Wissenschaft nahm die Studie relativ neutral auf); das argumentative Material gegen Drosten wurde von einem Medium aus dem öffentlichen kontroversen Diskurs der Wissenschaft „gesourced“ und dann verzerrt und „verwafflicht“ (weaponized).
– 3. Bild ist ein Boulevardblatt und „schaut dem Volk aufs Maul“, das Volk will „Normalität“, sachliche Bedenken treten dahinter zurück. Überspitzt: Bild schreibt, was nachgefragt wird. Es entsteht Journalismus als Populismus. Die Streeck-Kritik fand in Intelligenzblättern statt (Zeit, SZ, …), deren Programm ist Information und Kritik. Die medialen Programme sind grundverschieden, entsprechend auch die Textsorten, Inhalte, Kommunikationsziele etc.
– Streeck / intelligente Medien: Zwischen den beiden Ansprüchen Information und Kritik ist eine Schere entstanden. Die Kritik an Streecks Kommunikation & Verflechtung (Streeck ↓) stand in Konflikt zur Information über seine (prinzipiell berichtenswerten) Ergebnisse (Streeck↑). Das erste hat das zweite fast vollständig überdeckt – unbefriedigender Journalismus auch der Intelligenzmedien.
– Es hat sich inzwischen eine poltisch-weltanschauliche Polarisierung der Corona-Politik herausgebildet: Lockdown ist „links“, Öffnung ist „rechts“ (Mariam Lau: „Interessant, wie schnell das gegangen ist: Lockdown ist “links”, Öffnen ist „rechts“. Die meisten hierzulande irgendwo mittig, oder?https://twitter.com/MariamLau1/status/1264454375109545985). Aber Weltanschauungen verhalten sich wie Realitäten zueinander, sie sind nicht verhandelbar. Ihre Kollision generiert Feindschaft. Die macht die Bewältigung kollektiver Hyperprobleme unmöglich.
– Mein Standpunkt: Man muss der Verpolitisierung und Verweltanschaulichung der wissenschaftlichen Sachdebatten aktiv und unablässig entgegenwirken. Medien müssen den Treibsand der Verpolitisierung, der die Sachthemen ständig zu begraben droht, täglich neu wegschaufeln. Bild hat ausschliesslich das Gegenteil getan. Aber die Intelligenzmedien (besserer Ausdruck wäre nötig, „mainstream“ ist unpassend) haben dieses Gegenteil AUCH getan, wenn auch nicht ausschliesslich. Adäquat und ent-verpolitisierend wäre es gewesen, Kommunikation & Verflechtung (Streeck ↓) gleichberechtigt neben Darstellung der berichtenswerten Ergebnisse (Streeck↑) zu stellen.
– Die am wenigsten politisierten Informationen über die Corona-Thematik liefern Quellen wie nature, science, Spektrum der Wissenschaft. Empfehlungen: https://www.nature.com/briefing/signup/ (EN) und https://twitter.com/Fischblog (DE). Vom Boulevard-Publikum können sie prinzipiell kaum rezipiert werden, dem Publikum der Intelligenzmedien fehlt oft die Zeit, Aufbereitung ist nötig.
– Die Translation wissenschaftlicher Diskurse in mediale Diskurse bleibt ein ewiges Problem, insbesondere dort, wo Wissenschaft unmittelbare gesellschaftliche und politische Wirksamkeit entfaltet, wie im Fall Corona oder auch Klima. Einerseits ist Trennung nötig (Wissenschaft freihalten von Verpolitisierung); andererseits Kontakt / Kraftschluss (Ergebnisse UND Ungewissheiten der Wissenschaft in den politischen/öffentlichen Diskurs einbringen). Eine schwierige Gratwanderung.
– Ich vermute, dass sich die zitierten, Drosten kritisierenden Wissenschafter gegen Bild solidarisieren werden und Bild heftigen Gegenwind bekommt, auf den Bild auch wird reagieren müssen. Das wäre jedenfalls zu wünschen. Der wissenschaftliche Streit ist seinen Regeln nach ein fairer Streit (in der Realität nicht immer), auch diese Fairness gehört bei der Übertragung in den öffentlichen Diskurs gewahrt und wiedergegeben. Das muss auch in einem Boulevardmedium möglich sein.