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Das Ohr als Denkorgan

Unsere Kulturen sind auf das Auge fixiert. Was wäre, wenn wir stattdessen mit dem Ohr wahrnähmen und dächten? Wäre die Welt dann eine andere, bessere? Ein Plädoyer für einen umfassenden acoustic turn.

Erschienen in Philosophie Magazin EDITION 2026. Hier folgt die Autorenfassung mit Fußnoten und leichten Abweichungen vom publizierten Text.

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Wir leben in einer visuellen Welt. Das Auge ist unser Erkenntnisorgan par excellence – nicht nur im unmittelbaren, sondern auch im übertragenen Sinne. Wir schauen nicht nur mit dem Auge, wir denken auch mit ihm. Wir stellen uns die kognitiven Prozesse unwillkürlich als eine Art Bildverarbeitung in unseren Köpfen vor. Das lässt sich auch an unserer Sprache ablesen: Wir reden von Einsichten, wir sagen: schau! und meinen: überlege!, wir machen uns ein Bild von einer Angelegenheit, einen wichtigen Gedanken haben wir klar vor Augen
Was wäre, wenn wir ihn vor Ohren hätten?

Solch ein akustisches Modell von Denken und Erkenntnis würde jedenfalls viel besser zu den Ergebnissen der aktuellen Hirnforschung passen als ein visuelles. Neurowissenschaftliche Experimente zeigen, dass kognitive Akte – wie etwa das Wiedererkennen eines Gesichts – damit einhergehen, dass sich die Aktivitäten von Neuronen-Gruppen synchronisieren1. Die bio-elektrischen Signale der Zellen fallen in einen Gleichtakt, ihre Schwingungen werden regelmäßig und stimmen sich aufeinander ab. Die Neuronen bringen damit einen bio-elektrischen „Klang“ hervor – auch wenn der, wie bei Elektrogitarren ohne Tonabnehmer und Verstärker, unhörbar bleibt. Der Neurophysiologe Wolf Singer spricht daher vom Hirn als einem „Orchester ohne Dirigenten“2: akustischer geht es wohl kaum. Etwas wie Bilder hingegen ist in unseren Gehirnen nicht zu finden.

Dass unsere Fixierung auf das Visuelle die Vorstellung des Erkenntnisprozesses zumindest recht unglücklich verengt, ist schon vielen Denkern aufgefallen, von Leibniz über Herder3 und Nietzsche bis zum Sozialphilosophen Ulrich Sonnemann (1912–1993). Der wetterte gegen die „Okulartyrannis“, die „Tyrannei des Auges“4 und hegte bis zu seinem Tod den Plan, als Gegenprogramm eine „transzendentale Akustik“ zu formulieren. Die sollte die Kant‘schen „Anschauungsformen“ um „Anhörungsformen“ ergänzen, Denken und Erkenntnis als ein „geistiges Hören“ verständlich machen und so das Projekt der Aufklärung vervollständigen.5

Auch in der aktuellen Wissenschaft und Philosophie lässt sich ein Trend hin zu Schwingung und Akustik ausmachen. Für den 2009 verstorbenen Sprachphilosophen Henri Meschonnic etwa ist es der geistige und sprachliche „Rhythmus“ eines Wortes, was überhaupt erst dazu führt, dass Wörter Sinn und Bedeutung haben – er wendet sich damit scharf gegen die klassische, aber schon immer problematische Idee, Wörter seien „Zeichen für Dinge“6. Der Soziologe Hartmut Rosa richtet seine Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Resonanz-Phänomene7, und die Disziplin der sound studies (Rolf Goebel, Holger Schulze, Jens Gerrit Papenburg, Bernd Herzogenrath u.v.m.) erkundet die klanglichen Phänomene der Welt in allen ihren Dimensionen.8

Trotzdem denken wir Tag für Tag unbeirrt weiter mit dem Auge. Vielleicht, weil die Auswirkungen eines konsequenten acoustic turns, wie ihn etwa der Kulturwissenschaftler Thomas Macho einfordert9, zu durchgreifend wären?
Man müsste, wollte man tatsächlich das denkende Auge durch das denkende Ohr ersetzen (oder es wenigstens darum ergänzen), geradezu an die Ursprünge unserer Erkenntniskultur zurückgehen, ja möglicherweise gar an die unserer biologischen Wahrnehmungssinne, und von dort das Nachdenken über das Denken neu beginnen. „Das Ohr hört den Klang! Eine ganz andere wunderbare Conception derselben Welt“ – so sagt es Nietzsche, Sehen und Hören vergleichend.10

Wert wäre es, sich auf sie einzulassen. Denn die Chancen auf Gewinne sind beträchtlich. Hier ein Schnelldurchgang durch das, was ein konsequentes Klang-Denken Nützliches und Neues bringen könnte:

Den Geist verstehen
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Was soll das sein, der Geist in unseren Köpfen (oder das Mentale, oder das Bewusstsein)? Dieses Rätsel beschäftigt die Menschen seit Urzeiten. Heute ist klar: Der Geist kommt aus dem Hirn. Doch wie geht das vor sich? 

Bleibt man beim Bild vom Hirn als einem Orchester ohne Dirigenten – was ist dann der Geist? Die Musik, die dieses Orchester hervorbringt? Mit einer derart direkten Begriffsübertragung würde man den Besonderheiten der neuronalen und geistigen Phänomene nicht gerecht werden. Besser trifft man es so: Der Geist – das ist die Klangveranstaltung, die unser ganzes Leben lang im Hirn vonstatten geht. Ein elektrochemisches Klanggeschehen, das sich in akustisch-neuralen Rückwirkungen beständig selbst modifiziert, und dessen astronomische Komplexität weit jenseits all dessen liegt, was wir uns mithilfe vertrauter Begriffe und Intuitionen vorzustellen in der Lage wären.

Sicher, der Geist als Klanggeschehen – das ist eine Metapher. Doch alle anderen Antworten auf die Frage nach dem Zusammenhang von Hirn und Geist sind das auch, von der antiken Vorstellung vom Geist als göttlichem Atem (pneumaoder spiritus) über Descartes berühmte Formel von der „denkenden Substanz“ bis hin zur Idee, das Hirn sei so etwas wie ein Computer und der Geist entspreche dann der Software, die auf diesem Computer „läuft“.

Wenn man schon auf Metaphern angewiesen ist, dann passt diejenige des Klangs nicht nur besser zum wissenschaftlichen Kenntnisstand als alle ihre Alternativen. Darüber hinaus eröffnet sie interessante Perspektiven für unser alltägliches Sprechen und Nachdenken über uns selbst und, nicht zuletzt, unseren Umgang miteinander.

Frische Begriffe
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So kann sie etwa völlig neue Begriffe für unsere „Geist-Inhalte“ generieren. Derzeit leben wir ja mit einem historisch gewachsenen Wildwuchs-Vokabular, das häufig ziemlich in die Irre führt. 

Da gibt es die Wortgruppe Wahrnehmung, (Sinnes-)Eindruck, Empfindung etc., die suggeriert, im Kopf würde sich etwas wie ein „Abdruck“ der Außenwelt befinden. Dann die Gruppe Meinung, Überzeugung, Ansicht [!], WissenGlauben, in der so viel an unklaren Wahrheits- und Geltungsansprüchen steckt, dass sich zwei Menschen fast zwangsläufig in die Haare bekommen, sobald sie einander ihre Gedanken offenbaren.

Würde man – phantasieren wir hier ruhig einmal ein wenig herum – den Aufbau der Begrifflichkeit vom Klang her völlig neu beginnen, dann könnte man derartige Fallen von vornherein umgehen. 

Man könnte etwa zunächst einen Oberbegriff für alles Klanglich-Mentale bilden, der die Konzepte Gedanke, Meinung, Idee, Wissen, Wahrnehmung und vieles mehr umfasst, sagen wir, englisch ausgesprochen: Sone. Von sonus (lat.), Klang. Einen Sone über etwas zu haben oder etwas zu sonieren – das hieße dann nichts anderes, als dass der Inhalt „X“ in meinem Geist bewusst präsent ist.

Verbindungen von Sones wären MotiveFiguren oder Themen. Manche davon kann man gezielt als intellektuelle Werkzeuge benutzen („Denkfiguren“), andere kreisen als „mentale Ohrwürmer“ durch unseren Geist – denen wir mitunter ziemlich ausgeliefert sind. Und auch für all die flüchtigen Gehalte, die ständig meine Innenwelt durchpulsen (wie würde man sie derzeit nennen? „Ahnungen“?), gäbe es nun ein eigenes Wort: Sie würden dann, abgeleitet von „Rauschen“, Räusche heißen oder vielleicht, vom Wort Melos, Melismen – wolkige Geist-Klanggebilde, so leise und so zart wie einflussreich und unberechenbar.

Und all das wäre völlig neutral und rein beschreibend ausgesagt. Meine Gedanken anderen empfehlen, so ich das will, kann ich immer noch im nächsten Schritt – dann aber ausdrücklich, offen und bewusst.

Körper / Gefühle
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Unser Geist schwebt nicht abstrakt und körperlos in uns herum. Denken ist untermalt von Gefühlen, und oft genug von ihnen geleitet. In klanglicher Begrifflichkeit wären die vielleicht Drones: beständige brummende Klangteppiche, teils einander überlagert, teils miteinander konkurrierend. Und die Signale, die das Gehirn über die Nerven mit Organen tauscht (besonders geist- oder seelennah: die autonomen Nerven Sympathikus und Vagus), könnte man Beats nennen: ein unablässiges, in Tempo und Intensität variierendes neuronales Trommeln. Das Klangkonzept des Geists schlägt so fast von selbst die Brücke zwischen „Leib“ und „Seele“, die in den visuellen oder substanzbasierten Geist-Modellen (wie bei Descartes) immer am Schwanken oder Kollabieren war.

Tod und Leben
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Hört unser Hirn zu funktionieren auf, dann ist das Leben aus. Dann sind wir tot. Oder, klanglich gesagt: Unser Hirn-Geist verstummt. 

Man scheut ihn, diesen Gedanken an das eigene Verschwinden. Doch immerhin: Nichts Klangliches bleibt folgenlos. Vergleichbar mit den sich bildenden Ringen um einen ins Wasser geworfenen Stein, klingen alle zu Lebzeiten getanen Handlungen, alle zu Lebzeiten gesprochenen Wörter in anderen Menschen weiter. Sie wandern von Geist zu Geist, fließen mit anderen Klängen zusammen, bilden neue Figuren, stoßen neues Denken und Handeln an und schreiben, nein, klingen sich ein in jenes große Schwingungswerk, das sich von den Anfängen der Menschheit hin zur offenen Zukunft erstreckt.

Unsterblich werden wir klanglich jeden Augenblick. Und das ewige Leben haben wir gewissermaßen auch: an unserem Nachhall. Nur ohne erlebendes Ich-Subjekt. Das mag, je nach persönlichem Empfinden, die bittere Pille daran sein – oder im Gegenteil das Salz in der Suppe.11

Social Vibes
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Sowieso ist ja dieses „Ich“ niemals so autonom gewesen, wie es sich selbst gern sieht. Denn niemand klingt für sich allein. Wir klingen im Verbund, oder in wechselnden Verbünden – was sich auch neuronal belegen lässt.

Seit gut einem Jahrzeht sind Experimente möglich, die Hirnrhythmen gleich mehrerer Personen in Echtzeit auswerten, das neuronale Hyperscanning.12 Sie zeigen, dass Neuronen sich auch über Hirngrenzen hinweg miteinander synchronisieren. Und zwar insbesondere dann, wenn Menschen miteinander kooperieren oder sich empathisch zueinander verhalten.

Und wenn diese interpersonale neuronale Synchronizität nicht nur etwas mit dem Geist, sondern auch mit dem noch rätselhafteren Phänomen des Bewusstseins zu tun haben sollte (eine plausible, in der Forschung neben zahlreichen anderen Bewusstseins-Theorien verfolgten Hypothese13), dann sind wir womöglich auf irgendeine Weise auch kollektiv bewusst. Dann werden Geist und Bewusstsein von einem gesamt-menschheitlichen neuronalen Tanz mitgetragen. Oder von einem Neuronen-Super-Mega-Hyper-Chor. Was überhaupt nicht heißen muss, dass es dabei „harmonisch“ zugeht.

Logik
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Im Gegenteil. Denn Klänge können sich gewaltig aneinander reiben. Und löschen doch einander dabei nicht aus. Denn im Akustischen kann, viel besser als im Visuellen, das scheinbar Unvereinbare zugleich bestehen. Wo sonst erbarmungslos entweder-oder! gilt, da bietet sich im Klanglichen auch eine andere Option: die eines spannungsvollen Sowohl-als-Auch. Logische Widersprüchlichkeit ist dann nicht mehr ein Teufelszeug, das auszumerzen ist, wie es unsere klassische Logik fordert. Sondern sie wird ein reguläres, produktives Denk- und Arbeitsmittel.

Man kann es gut gebrauchen, in Politik, Geschichte, vielen Wissenschaften, überall dort, wo Fakten knapp sind und daher Deutungen florieren – und oft genug einander widersprechen. Die kognitive Dissonanz ist heutzutage Alltag. Dass wir sie immer noch als unangenehm empfinden, kann durchaus eine Sache der Gewohnheit sein: Auch unsere heutige Musik wäre Menschen aus einer anderen Zeit, aus, sagen wir, dem Mittelalter wohl unerträglich schief erschienen. Warum nicht heute auch im Intellektuellen mehr Mut zum schrägen Sound? Hören wir auf, den Widerspruch zu ächten. Begrüßen wir die logische Dissonanz!

Klängen
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Ein Blick [!] zurück zum Anfang unserer Überlegungen: Die gängige, also die visuelle Geist-Metapher beschreibt den geistigen Prozess als ein mentales Spiel mit Bildern, die zuvor durch die „Kameralinse“ Auge in unser Hirn hereingekommen sind.

Aber so funktioniert Wahrnehmung nicht. Das Hirn macht keine „Abbildungen“ der Außenwelt, und auch das Klanghirn macht keine „Abklänge“. Der Hirn-Geist klingt von sich aus, selbsttätig. György Buzsáki, Neurowissenschaftler mit Spezialgebiet Hirnrhythmen, nennt dies die „inside-out“ Funktionsweise des Gehirns.14 Das, was wir als passives Registrieren von Sinnesreizen empfinden, ist in Wirklichkeit eher ein Modulieren und Variieren der sowieso in unserem Kopf ablaufenden Aktivitätsmuster oder „Melodienschleifen“, je nachdem, welche Sinneseindrücke auf sie einwirken.

Und je nach dem, wohin das Ich sie dirigiert. Denn dieses Ich – der kolumbianische Hirnforscher Rodolfo Llinás hat vorgeschlagen, es als einen „Wirbel“ oder „Strudel“ rhythmisch-koordinierter Neuronenaktivität zu verstehen15 – kann ja offenbar einigen Einfluss darauf nehmen, was in meinem Hirn gespielt wird. Ich kann Inhalte willentlich klanglich anwachsen oder sich abschwächen lassen, im Sinne eines Crescendo oder Decrescendo, ihre klangfarblichen Register unterschiedlich abmischen, sie mit anderen verbinden oder solche Verbindungen wieder auflösen und vieles andere mehr. Es klingt nicht nur in meinem Kopf, sondern ich klänge etwas, aktiv und willentlich.

Klängen, als ein akustisch gemeintes aktives Vorstellen, Nachdenken und natürlich auch Erinnern – das wäre ein weiterer möglicher Zentralbegriff einer neuen, auf dem Akustischen basierenden Mental-Terminologie.16

Lauschen
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Wenn wir mit unserem inneren Auge „schauen“, wie wäre es dann, mit unserem inneren Ohr zu lauschen? Immer dann, wenn wir etwas Vorgestelltes durchdringen und verstehen wollen? Ein lauschendes Erkennen ist etwas anderes als ein schauendes.

Als Schauender stelle ich mich einem Gegenstand entgegen. Ich vergrößere bald diesen, bald jenen Ausschnitt, bemühe mich, den Kontrast zu erhöhen, das Bild ruhig und stabil zu halten und möglichst scharf zu stellen. Visuelle Erkenntnis ist analytisch, statisch, objektivierend.

Beim Lauschen hingegen tauche ich in etwas ein, das sich bewegt. Ich versuche, seine Dynamiken zu erfassen und die unterschiedlichen Kräfte, die in ihm wirken, nachzuverfolgen, es im Ganzen zu „durchhören“. Auditive Erkenntnis ist kontextuell, dynamisch, integrierend. „Der Ton“, schreibt Nietzsche, der immer wieder auf diese Fragen zurückkam, „verbindet, während das Auge trennt.“17
Besonders deutlich wird der Unterschied am Phänomen der Frage. Als Schauender haben Fragen für mich eine einzige Botschaft: Finde auf mich die richtige Antwort! Für den Lauschenden hingegen liegt der Wert der Frage in ihrer Offenheit selbst.

Wie führe ich ein sinnvolles Leben? Wie lässt sich in Frieden miteinander existieren? Wie kann ich den Platz des Menschen im Kosmos begreifen? – Abschließende Antworten habe ich nicht zu erwarten. Aber mich in diese Fragen immer weiter hineinzuhören, sie mit meinem Hörsinn gleichsam zu durchmustern, erschließt mir überhaupt erst ihre wahre Bedeutung und Tiefe. Neben das Wissen tritt mit dem Lauschen auch das Wundern. Schauen kann mich im besten Falle informieren. Lauschen hingegen verwandelt mich. 

Bilanz
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Was stünde also auf der Haben-Seite, vollzöge man den Schritt vom Auge hin zum Denken mit dem Ohr? 

Eine neurologisch realistische Geist-Metapher, die auch das Zwischenmenschliche mit einbezieht. Eine neue, wertneutrale Mental-Terminologie, die das Prozesshafte der Geist-Vorgänge unterstreicht. Eine plausible und stabile Leitvorstellung für das Verhältnis zwischen Leib und Seele. Und eine für den Tod, mit Relevanz fürs Leben. Dazu ein Logik-Update mit Raum für Ambiguität. Und eine neue, sensibel-offene, das Integrative betonende Erkenntnis-Haltung.

Es könnte auch noch mehr hinzukommen. Existenzialisten wie Sartre oder Camus haben die Absurdität beschrieben, das mit dem Beginn der Moderne über den Menschen hereinbrechende Phänomen, dass sich in Welt und Dasein kein Sinn mehr entdecken oder neu stiften lässt. Ab-surdus bedeutet weg-gedämpft. Klanglich zersplittert, klanglos. 

Vielleicht steckt mehr in diesem Wort, als es zuerst den Anschein hat. Vielleicht besteht eine tiefe Verbindung zwischen Klanglichkeit und Sinn, derer wir uns noch nicht bewusst sind, und ihre Erkundung kann uns helfen, das Umsichgreifen des Absurden einzudämmen und auf eine neue Weise Sinn zu erzeugen.

Gestatten Sie mir zum Abschluss, einen großmaßstäblichen und etwas gewagten Gedanken anzudeuten. Es geht um das fundamental erneuernde, oder sagen wir besser: erfrischende Potenzial, das eine Wende vom Visuellen zum Akustischen entfalten könnte.

Neue Bahn
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Wir leben in einer Epoche, die sich mit Vorliebe als Nachklapp beschreibt: post-modern, post-faktisch, post-kritisch, post-demokratisch, post-religiös. Das intellektuelle Material, mit dem wir unser Denken organisieren, scheint ausgelotet und erschöpft. Was die Zukunft angeht, ist die Luft erst recht dünn geworden, uns beschäftigt vor allem die Abwehr ihrer Bedrohungen. Einem Wort wie „Hoffnung“ haftet fast schon etwas Zynisches an.

Gelegentlich ergehen zwar Aufrufe zu irgendeinem Aufbruch, doch riechen sie entweder verdächtig nach Wiederaufguss, oder es sind technizistische Utopien, die das Menschliche am Menschen aufzulösen versprechen und damit selbst etwas höchst Unheilvolles haben.

Wer hoffnungsvolle allgemeine Perspektiven sucht, und seien sie auch vage oder fern, wer dabei ein revolutionäres Zerschlagen des Bestehenden ebenso vermeiden will wie esoterische Träumereien, reaktionäre Nostalgie oder science-fiction-Phantasmen, der steht mit ziemlich leeren Händen da.

Jene „ganz andere wunderbare Conception derselben Welt“, von der hier die Rede war, könnte aber, salopp gesagt, frischen Wind in die Sache bringen. Denn das Akustisch-Kognitive eröffnet ein noch grenzenloses Spielfeld – zum einen für die Forschung, vor allem aber für alle gestaltenden Disziplinen, von der Philosophie über die Literatur bis möglicherweise auch zu anderen Künsten, und sogar für den einzelnen neugierigen Menschen, um frische Denkfiguren zu entwickeln und vielleicht sogar zu einem mit-menschlicheren Selbstverständnis zu gelangen als derzeit.

Man muss nur Mittel und Wege finden, diese Umdenk- und Gestaltungsarbeit tatsächlich auch praktisch zu beginnen und voranzutreiben. Und dieses „nur“ ist natürlich der Flaschenhals, in dem das Unterfangen gleich wieder stecken bleiben kann.

Aber vielleicht lässt er sich ja überwinden? Vielleicht lässt sich das Denken mit dem Ohr viel besser praktizieren, als man zunächst vermutet? Vielleicht ist, wenn man bereits so lange und so viel gesehen hat, das Lauschen eine umso lockendere Option? Vielleicht kann unsere Epoche auch eine post-visuelle, prä-akustische sein?

Ich glaube das. Der vielbeschworene acoustic turn, wenn er denn irgendwann einmal die Kurve kriegt, er könnte uns in eine völlig neue Bahn hinüberschwingen lassen. 


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Fußnoten/Anmerkungen
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  1. Die ersten Forschungen dazu stammen aus der Arbeitsgruppe von Wolf Singer: Gray, C.M., König, P., Engel, A.K., Singer W. Oscillatory responses in cat visual cortex exhibit inter-columnar synchronization which reflects global stimulus properties, Nature 1989, 338, 334-337 ↩︎
  2. Wolf Singer, Das Gehirn – ein Orchester ohne Dirigent. In: Max Planck Forschung 2/2005 ↩︎
  3. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler Jürgen Trabant rekonstruiert die Rolle des Akustischen bei Leibniz und Herder und schreibt: „Das Ohr, in der europäischen Tradition vorwiegend als soziales, ethisches, kommunikatives Organ angesehen, wird bei Herder ein welterschließendes, erkennendes, kognitives Organ (ohne deswegen natürlich aufzuhören, kommunikativ zu sein). Es hätte sicher einschneidende Folgen für die abendländische Kultur gehabt, hätte dieses Hören auf die Welt als erkenntnistheoretische Grundhaltung Erfolg gehabt [Hervorhebung MK].“ Jürgen Trabant. Der akroamatische Leibniz: Hören und Konspirieren. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 1993, 2: 64-71. Wiederabdruck in: Holger Schulze (Hg.), Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien. Bielefeld 2012 ↩︎
  4. etwa ›Aufstand gegen die Okulartyrannis‹ in: Ulrich Sonnemann Schriften in 10 Bänden, Band 8, zu Klampen Verlag, Springe 2022 ↩︎
  5. Sonnemann konnte dieses Projekt zu Lebzeiten nicht mehr ausführen. Mehr in Martin Mettin, Kritische Theorie des Hörens. Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns. Berlin 2020 ↩︎
  6. Henri Meschonnic, Critique du rythme, Anthropologie historique du langage (1982) und zahlreiche andere Werke, siehe auch mein kurzer Aufsatz (2021) „Der Rhythmus-Radikale“ https://mkrohs.pub/henri-meschonnic-rhythmus-matthes-seitz/ ↩︎
  7. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 2. Auflage. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016 ↩︎
  8. siehe etwa: Holger Schulze (2008, Ed.): Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung oder Trevor Pinch & Karin Bijsterveld (2011), Oxford Handbook of Sound Studies ↩︎
  9. Macho verwendet den Begriff „acoustic turn“, der gelegentlich auch als „auditive turn“ erscheint, unter anderem in dieser online-Diskussion: Acoustic Turn – Sehen und Hören in der philosophischen Debatte, https://hoerstadt.at/projekte/hs-new/ , Aufzeichnung: www.dorftv.at/video/27079 . Er formuliert zugleich eine interessante Vermutung: „Das Hören ist den Philosophen so verdächtig und so problematisch, weil es eigentlich der Grundmodus der Religion ist.“ ↩︎
  10. Nachgelassene Fragmente Sommer 1872 — Anfang 1873, eKGWB/NF-1872,19[66] ↩︎
  11. Einen ähnlichen Gedanken gibt es bei Ernst Mach und, deutlicher noch, bei Derek Parfit, die beide das (weiterlebende) „Selbst“ oder die „Person“ als teils unabhängig vom (mit dem Tod vergehenden) „Ich“ konstruieren. Sie finden sich damit in Gesellschaft buddhistischer oder vedantischer Weisheitslehren. Für ein modernes westliches Subjekt kann dies dem Tod freilich nur bedingt den Stachel brechen. ↩︎
  12. etwa: Ana Lucía Valencia and Tom Froese, What binds us? Inter-brain neural synchronization and its implications for theories of human consciousness, Neuroscience of Consciousness, 2020, 6(1): niaa010, doi:10.1093/nc/niaa010 und Leonhard Schilbach and Elizabeth Redcay, Synchrony Across Brains, Annu. Rev. Psychol. 2025. 76:883–911, https://doi.org/10.1146/annurev-psych-080123-101149 ↩︎
  13. für eine populäre Darstellung: Edda Bilek, Auf einer Wellenlänge, Spektrum der Wissenschaft Magazin 04.08.2020 https://www.spektrum.de/magazin/hyperscanning-auf-einer-wellenlaenge/1751296 ↩︎
  14. Buzsáki, G. (2019). The Brain From Inside Out. New York: Oxford University Press. ↩︎
  15. Rodolfo R. Llinás, I of the Vortex, 2001 MIT Press, Cambridge, Massachusetts ↩︎
  16. Linguistisch wäre „klängen“ eine Kausativbildung, also ein Verb, das ausdrückt, dass jemand bewirkt, dass etwas geschieht (in diesem Fall: etwas klingt oder beginnt zu klingen). Kausative werden oft durch Umlautung gebildet, wie bei „fallen“ -> „fällen“ (zum Fallen bringen). Das Finnische kennt ein direkte Analog zu „klängen“: Vom Verbalstamm soi- „klingen, tönen“, wird der Kausativ soi-tta- „zum Klingen bringen, läuten“ gebildet. (Quelle Finnisch-Beispiel: https://de.wiktionary.org/wiki/Kausativ ) ↩︎
  17. Nachgelassene Fragmente Sommer 1871 — Frühjahr 1872, eKGWB/NF-1871,16[13] ↩︎